Zum ersten Mal erlebte ich Public Viewing, als das Wort noch gar nicht in Gebrauch war. Und große Leinwände leider auch nicht, zumindest nicht beim Fußballgucken. Es war der Sommer 1982. Mit meinen Eltern und zwei Cousins machte ich Urlaub in Dänemark. Am 11. Juli spielte Deutschland das WM-Finale gegen Italien. Keines der überwiegend von deutschen Touristen bewohnten Ferienhäuser hatte einen Fernseher, also errichteten ein paar nette Dänen auf einem Sportplatz ein großes Zelt und hängten Zettel auf, dass man dort das Endspiel schauen könne. Meine Cousins und ich saßen weit vorne, allerdings stand auf der Bühne des mit Hunderten Menschen gefüllten Zelts nur ein ganz normaler Fernseher (Farbe immerhin), den jemand aus seinem Wohnzimmer herbeigeschleppt hat. Vom Spielgeschehen war wenig zu erkennen, vom dänischen Kommentar wenig zu verstehen, und so begann meine Public-Viewing-Karriere mit Frust und Enttäuschung.
Vielleicht liegt es an diesem schlechten Start, dass ich bis heute nie richtig warm geworden bin mit Public Viewing, trotz inzwischen wesentlich besserer technischer Rahmenbedingungen. Meine Trauer darüber, dass es bei der jetzt startenden EM wegen Corona nicht den üblichen Public-Viewing-Zirkus geben wird, hält sich stark in Grenzen. Dabei habe ich die Spiele der vergangenen Turniere, wie wohl die meisten Fußballfans, an vielen verschiedenen Orten geschaut: in diversen Wohnzimmern und Gärten, in Kneipen und Biergärten, im Büro, in Kinos, in Parks und auf großen Plätzen.
Es waren sehr emotionale Momente dabei, keine Frage – so viele fremde Menschen wie nach Jens Lehmanns gehaltenem Elfmeter im Viertelfinale gegen Argentinien 2006 habe ich nie wieder umarmt. Oft war das Public Viewing aber einfach nur anstrengend. Der dröhnend laute Ton der Kommentatoren. Das Geschrei der Besoffenen. Der Schweiß, der Bierdunst, der Gestank von verkokelten Grillwürstchen. Der Typ mit Deutschland-Hütchen, der sich kurz vor Anpfiff noch direkt vor einen drängt. Und schließlich die alles überschattende Frage: Schafft man es in der Halbzeitpause aufs Klo und wieder zurück?
Sind wir nach fast anderthalb Jahren Corona so erschöpft, dass uns nicht mal mehr eine EM aufwecken kann?
Bei der Russland-WM war ich bereits so weit, dass ich die meisten Spiele zu Hause schaute. So konnte ich nach der Niederlage gegen Südkorea zwar an keiner Schulter Trost suchen, brauchte andererseits aber nur ein paar Minuten, um meinen Frust runterzuschlucken. Allein vor dem Fernseher ist meine emotionale Temperatur nämlich um einiges niedriger als in Gesellschaft, was den Umgang mit Niederlagen entschieden vereinfacht. Über Siege freut man sich derweil nicht weniger.
Täusche ich mich, oder ist die Temperatur in Fußball-Deutschland generell gerade eher lauwarm? Von Vorfreude oder gar EM-Begeisterung habe ich bisher nichts mitbekommen – trotz einer sympathischen Mannschaft und einem Trainer, dem man bei seinem letzten Turnier einen guten Abschluss wünscht. Woran liegt diese verhaltene Stimmung? Sind wir nach fast anderthalb Jahren Corona so erschöpft, dass uns nicht mal mehr eine EM aufwecken kann? Hat der Fußball generell an Bedeutung verloren, haben uns die leeren Stadien schleichend vom Spiel entfremdet? Haben die vielen Skandale und Peinlichkeiten in DFB, UEFA und FIFA Spuren hinterlassen? Andererseits weiß man, dass die Stimmung im Fußball stets auch schnell ins Positive umschlagen kann. Ein 4:0 gegen Frankreich wäre da zum Beispiel ein guter Anfang.
Große Public-Viewing-Veranstaltungen wird es, Stand jetzt, allerdings sowieso nicht geben. »Für klassisches Public Viewing mit Hunderten Fans dicht gedrängt reicht die Impfquote nicht aus«, sagte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, er fügte jedoch hinzu: »Was gut gehen wird: mit neun Freunden zusammen im Außenbereich eines Restaurants die EM gucken.« Ab da wird es kompliziert. Wie groß die Fernseher sein dürfen, wie klein die Leinwände sein müssen, wie die Abstandsregeln überwacht werden – alles momentan noch eher unklar. Die Stadtverwaltung Passau hat vorsorglich mitgeteilt, dass Lokale zwar EM-Spiele zeigen dürften, dass aber »dabei der Verzehr von Speisen und Getränken der Hauptzweck sein muss und die Übertragung nur ›im Hintergrund‹ erfolgen darf.« Nach intensivem Fußballgenuss klingt das eher nicht.
Die Münchner Polizei, ohnehin Corona-gestresst, bereitet sich derweil darauf vor, dass feiernde Fans spontan irgendwo zusammenkommen und es mit den Abstandsregeln dabei nicht so genau nehmen. »Wir können nicht absehen, ob es möglicherweise gigantische Auto-Korsos gibt oder ganz neue Arten zu feiern, von denen wir jetzt noch nichts wissen«, sagte ein Sprecher. Private Treffen im kleineren Rahmen sind hingegen erlaubt, wenn sie im Einklang mit den lokalen Corona-Bestimmungen erfolgen. Leider wurde versäumt, dieses wichtige Regelwerk im Kicker-EM-Sonderheft abzudrucken. Man darf spekulieren, ob ein solcher Service der entscheidende Vorstoß im Kampf gegen das Virus gewesen wäre.
Für die Polizei, das Robert-Koch-Institut und alle anderen Behörden habe ich hier jedenfalls eine gute Nachricht: Um mich müsst ihr euch keine Sorgen machen. Ich werde die EM komplett zu Hause schauen. Dazu tragen die mangelnde Euphorie, die unklare Gemengelage beim Public Viewing und die Horrorvorstellung bei, sich auf den letzten Metern noch bei einem »Schland...« brüllenden Biergarten-Nachbarn zu infizieren. Entscheidend ist aber, dass mir »Fußball pur« gerade als der angemesssenste Weg erscheint, um diese EM zu genießen. Ich kann verstehen, dass manche sich gerade jetzt nach Ablenkung sehnen, aber mir geht es genau andersrum. Die Pandemie hat so viel durcheinandergebracht, so viele Prioritäten verschoben, dass es mir hohl vorkommen würde, jetzt einfach wieder zur unschuldigen Turnier-Begeisterung von einst zurückzukehren. Zumal auch schon vor Corona genug Kommerz, Korruption, Klüngel und Katar im Spiel war, um einem den Fußballgenuss zu erschweren.
Nein, diesmal werde ich alles störende Beiwerk beiseitelassen. Das bedeutet: Keine Kneipen und Biergärten, keine fremden Menschen, keine Kostümierung, keine Sammelbildchen, keine umständlichen Verabredungen (»Wo guckst du?«), kein Grillfleisch, keine Salzstangen, kein Stress. Nur ich vor dem Fernseher, ich und meine Apfelschorle. Ich werde die Spiele möglichst konzentriert anschauen, vielleicht sogar ohne Ton. Bei Toren werde ich kurz jubeln, das dann doch, falls viele Tore fallen, habe ich meine alte Tröte griffberereit. (Zum letzten Mal kam diese beim 7:1 gegen Brasilien zum Einsatz, die Latte liegt also hoch.) In der Halbzeitpause gehe ich ganz entspannt aufs Klo und bin nach einer Minute wieder zurück. Und gleich nach dem Abpfiff wird der Fernseher ausgeschaltet. Gibt schließlich Wichtigeres im Leben.