5. bis 7. April
Kirschblüten. Hach!
Meine Welt liegt im Dämmerlicht. Die Lichter von Bahnhöfen, Gebäuden und Geschäften strahlen nur mit halber Kraft, denn immer noch wird Strom gespart, überall. Und trotzdem verläuft unser tägliches Leben hier in Tokio langsam wieder in geregelten Bahnen. Zugegeben, nichts ist, wie es einmal war, doch diese unglaubliche Anspannung ist ein bisschen gewichen. Was auch an den ersten Anzeichen des Frühlings liegen könnte. Die Kirschblüten blühen überall in der Stadt. Hach! Es sind wirklich ganz besondere Bäume, sehr japanische Bäume. Wir lieben sie, sie blühen so wunderbar.
Prozentrechnung
Der Kontakt zu all meinen Freunden war noch nie so intensiv wie innerhalb der letzten Tage. Denn wir haben eine Menge zu bereden und führen weitaus ernstere Gespräche zu ernsteren Themen als jemals zuvor. Es scheint mir zudem, als sprächen wir zu 100 Prozent über das Erdbeben und seine Folgen. 70 Prozent unserer Gespräche drehen sich um das, was wir, die in Tokio leben, tun können, um den Menschen im Norden, dort wo der Tsunami gewütet hat, langfristig zu helfen.
Kernenergie = Kernthema
Es sind Gespräche, die sich um die Zukunft ganz Japans drehen und um die der Welt. Wir sprechen über die anstehenden Gouverneurs- und Regionalwahlen, die an diesem Wochenende stattfinden. Ein sehr heikles Thema. Denn alles hängt in einem hohem Maße davon ab, wie der künftige Gouverneur zur Kernenergie steht. Deswegen machen alle Spitzenkandidaten die Kernenergie auch zum Kernthema ihres Wahlkampfes.
Von den Medien enttäuscht
Kernenergie, Reaktorkatastrophe, Umweltbelastung: Bei uns – und wohl auch innerhalb der ganzen japanischen Gesellschaft – gibt es einen regen Meinungs- und Wissensaustausch. Kein Wunder, fühlen wir uns doch von offizieller Seite im Stich gelassen. Die Regierung beschönigt und beschwichtigt und macht in Sachen Informationspolitik einen richtig beschissenen Job. Die Mainstream-Medien enttäuschen ebenso, die nationalen wie die internationalen. Die einen bringen zu wenig Information, die anderen gieren nur nach der Sensation, nach weiteren Katastrophen und Schwarzmalereien.
Die restlichen Prozente
Nun sind noch 30 Prozent Gesprächsstoff offen. 30 Prozent, die wir füllen mit persönlichen Anekdoten – wo jeder einzelne von uns war, als uns das Erdbeben überraschte und natürlich, wie wir uns nun fühlen. Und wir fühlen uns verwirrt, traurig, irritiert, hoffnungsvoll.
Evolution
Mariko hat mir erzählt, sie sei in das große Kaufhaus Mitsokoshi gegangen, das liegt im Distrikt Nihonbashi, einer ganz alten Gegend von Tokio. Sie hatte davon gehört, wie das Erdbeben (indirekt) den Eingang des Gebäudes verändert habe. Das große Kaufhaus Mitsokoshi ging bis vor Kurzem, wie alle anderen auch, mit den neuesten, super-flashigen LED-Installationen auf Kundenfang. Sie waren an der Kaufhausfassade und am Eingang installiert. Jetzt sind sie abgeschaltet. An ihrer Stelle hängen Vorhänge. Es handelt sich dabei um eine nahezu 300 Jahre alte Tradition. Das Gebäude sieht aus, als vermische sich in ihm die Kulisse eines Samurai-Films mit der einer modernen Straßenszene. Ich bin sehr begeistert, dass sie diese Idee hatten. Wie schlau, wie elegant und stylisch. Vielleicht ist das ja eine Form der Evolution, eine wirklich positive Lösung für die Zukunft: ein Leben mit weniger Elektrizität. Das ist sehr aufregend.
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