Die Uniform für den Abgang

Brad Pitt, David Beckham, Boris Johnson, Thomas Gottschalk: Warum ist der Leinenanzug besonders bei Männern beliebt, die selbst nicht mehr ganz faltenfrei sind? Eine Stilkritik. 

Nicht der einzige Leinenträger in diesen Zeiten, aber der versierteste: Brad Pitt bei der Bewerbung seines neuesten Films. 

Fotos: Getty Images

Aus aktuellem Anlass kursiert im Internet gerade eine Studie aus dem Jahr 1979, die untersuchte, welche Kleidung bei Hitze am besten kühlt. So viel sei verraten: Ultrakurze Hosen und bauchfreie Tops sind es schonmal nicht. Auch Anzug und Hemden mit halbem Arm fallen durch. Stattdessen ist die komplett verhüllende, aber luftig geschnittene Abaya, also das klassische Gewand der Beduinen, dasjenige, welches am besten vor der Sonne schützt. Unter dem Gewand zirkuliert immer genug Luft, das kühlt die schwitzende Haut. Ob der Stoff dann Weiß oder Schwarz ist, macht keinen wirklichen Unterschied. Hauptsache der »Flow« darunter stimmt.

Aber der moderne Mensch handelt ja gern wider besseres Wissen. Beim letzten Blick in die Großstadtwüste hatte sich der Männerkaftan noch nicht durchgesetzt. Dafür sorgt ein anderer Sommertrend in der Herrenmode mal wieder für Aufsehen: der lockere Leinenanzug. Als Stilvorbilder fallen einem hier spontan drei Namen ein. Der große Gatsby, Sonny Crockett aus Miami Vice und Indiana Jones. Das ist auch ungefähr die Reihenfolge, wie sie die dem Verschmutzungs- und Knittergrad entspricht. Allerdings sind alle drei fiktive Charaktere mit Kostümdepartment und Steamer, also Dampf-Glätter, im Hintergrund, was sie zu unerreichbaren Vorbildern macht.

Im echten Leben hat vor allem Brad Pitt den lockeren Leinenanzug wieder mobilisiert. Auf der gesamten Europatour zum Filmstart von »Bullet Train« trat er in dem aus der Flachsfaser gewonnenen Stoff auf, einmal sogar in einer Blazer-Rock-Kombination. Farblich changierten die Anzüge zwischen Shrek-Grün und Granatapfel-Orange-Rot, eigentlich klassisches Claudia-Roth-Repertoire. Auf die freundlich formulierte Frage eines Variety-Reporters, warum er trage, was er da gerade trage, antwortete Pitt: »Keine Ahnung! Wir werden eh alle sterben, es ist egal, lasst uns alles durcheinander tragen!« Diese Art Carpe-Diem-Totschlagargument dürfte sofort in den allgemeinen Jugendsprache-Kanon übergehen und die pubertäre Standardantwort werden auf alle »Was hast du dir dabei gedacht?«-Fragen von Eltern und Lehrern. Schönen Dank auch.

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Aber zurück zum Leinenanzug, der ja – außer bei Pitt, der selbst im Gladiatorenrock in »Troja« nicht lächerlich wirkte – selten gut, sondern fast immer zerbeult und verknittert aussieht. Der Guardian machte nun vor allem eine bestimmte Sorte Männer als Leinen-Fans aus: solche, die eine neue Phase ihres Lebens beginnen, was positiv klingt, eigentlich aber heißen soll: Uniform für den Abgang, ein Leinenanzug sei im Grunde »retirement wear«, also Kleidung für den Ruhestand. Das ist natürlich gemein. Andererseits gehören zu regelmäßigen Trägern Boris Johnson, David Beckham, Bastian Schweinsteiger, Thomas Gottschalk. Jeder, der noch einen solchen Anzug im Schrank hängen hat, darf jetzt selbst entscheiden, ob er den noch mal anziehen möchte. Leinen also los?

Ohne Frage ist Leinen im Sommer angenehm zu tragen. Der Stoff liegt leicht auf der Haut, saugt Schweiß sofort auf, gibt die Feuchtigkeit aber auch schnell wieder ab. Sehr viel nachhaltiger als Baumwolle ist er obendrein. So weit so gut. Nun sind Männer eines gewissen Alters aber, bewusst oder unbewusst, nicht mehr unbedingt bereit, enge Schnitte zu tragen. Außerdem wollen sie locker wirken. Also greifen sie zu luftig geschnittenem Leinen, das dann allerdings – siehe Boris Johnson – nicht weniger, sondern eher sogar mehr knittert, nach längerem Sitzen bilden sich diese seltsamen Ringe in den Kniekehlen, der Kragen fängt an, sich zu wellen. Dass sich das mit dem auch nicht mehr ganz faltenfreien Gesicht spiegelt, ist ein lustiges »Match«, das aber eigentlich nicht gewollt sein kann. Frauen eines gewissen Alters zumindest tragen auffällig oft gestärkte weiße Blusen. Diese wirkten, so die verquere Logik, wie ein »Instant Facelift«. 

In Anlehnung an Brad Pitt kann jetzt natürlich jeder Leinenträger sagen: »Passt doch zur allgemeinen Weltanlage. Mein Anzug sieht halt so aus, wie wir uns fühlen! Ist doch eh egal!« Oder, mit Verweis auf die Beduinen, erklären, dass ein Gewand im Sommer halt weit geschnitten sein muss, damit drunter die Luft zirkulieren kann. Wen stören schon ein paar Falten, wenn dafür bei 30 Grad die Geruchsbildung am Körper geregelt ist?

Typischer Instagram-Kommentar: »Leinen los!«
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