Nicole Kidman in The Hours, Halle Berry in Monster’s Ball, Charlize Theron in Monster – vor knapp zwanzig Jahren wurden Schauspielerinnen dafür gelobt (und mit dem Oscar belohnt), dass sie sich trauten, auf der Leinwand hässlich zu sein. Nun wird gerade Kate Winslet gefeiert, weil sie es in der neuen HBO-Serie Mare of Easttown tatsächlich wagt, realistisch auszusehen: Wie eine Frau, die nicht mehr ganz jung, nicht mehr ganz schlank ist, einige Fältchen im Gesicht hat, die Ansätze nicht 1a gefärbt trägt. In einer Sex-Szene ist sogar ein Stück Wabbel-Bauch zu sehen. Porträtiert wird also eine durchschnittliche Mittvierzigerin. Winslet selbst ist übrigens: 45. Donnerwetter.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die schauspielerische Leistung der Oscar-Preisträgerin ist sowieso hervorragend, aber der Mut zu Normalität und Muffin-Taille ist das, was aktuell am meisten Erwähnung findet, weil er in Serien und Filmen eben so selten ist. Die kürzliche Friends-Reunion mit den drei kaum gealterten Hauptdarstellerinnen wirkte dagegen fast wie Satire.
Aber vielleicht noch bemerkenswerter ist ja, dass dieses reale Wagnis eben nicht im realen Leben stattfindet, sondern auf dem Bildschirm. Winslet spielt eine Rolle, die sie im wirklichen Leben nicht verkörpert. Zwar lässt sie sich vertraglich zusichern, auf Fotos nicht retuschiert zu werden, schon 2003 klagte sie erfolgreich gegen eine Photoshop-Version von sich in der GQ und sie scheint – im Vergleich zu Kolleginnen, die nicht Frances McDormand heißen – deutlich entspannter zu altern. Aber bei öffentlichen Auftritten, in Interviews oder gelegentlichen Paparazzi-Fotos kommt sie natürlich immer noch durchgepflegter daher als als Polizistin »Mare«. Und in der britischen Vogue spricht sie als L’Oreal-Botschafterin ausführlich über ihre Beauty-Routine.
Zoom- und Teams-Konferenzen: Die ständige Selbstbespiegelung ist für viele die reine Folter
Vorwerfen wird ihr das niemand, der die letzten eineinhalb Jahre mit Zoom- und Teams-Konferenzen verbracht hat. Die ständige Selbstbespiegelung (bei Teams gefühlt noch erbarmungsloser) ist für viele die reine Folter. Das Fenster wegzuklicken ist trotzdem keine Option, weil man sonst irgendwie das Gefühl hat, die Kontrolle über sein Aussehen zu verlieren. Lieber wird der Weichzeichner aktiviert, Concealer aufgetragen, ein Ringlicht angeschafft oder gleich ein Lifting gebucht. Die Zahlen von Botox- und Hyaluronbehandlungen gehen seit der Pandemie durch die Decke. So sehr wir Natürlichkeit preisen – nicht mal wir selbst ertragen unsere eigene Realität.
Deshalb identifizieren wir uns zwar sehr mit Winslets Serienfigur, am Ende gehen viele Frauen eines gewissen Alters aber doch nicht ungeschminkt oder mit fettigen Haaren in den Supermarkt. In schwachen Momenten kaufen sie die neue Beauty-Linie von J.Lo, weil die Frau nun mal unglaubliche 51 ist. Auf Instagram macht man höchstens einmal im Monat ein »no filter, no make-up«-Selfie, um mal mutig (nach zwanzig Versuchen) die ganze Wahrheit (mit Ringlicht) zu präsentieren. Auch Schauspieler und Models lassen sich gelegentlich für Fotoserien oder Kunstprojekte »ohne« ablichten, wenn es explizit Thema der Arbeit ist. Realität ist heute eben nicht die Norm, sondern eher eine gelegentliche Motto-Party.
Aber vielleicht kommt ja jetzt doch ein bisschen Bewegung in die Sache. Die Schauspielerin und Regisseurin Justine Bateman hat gerade das Buch »Face – One Square Foot of Skin« veröffentlicht, in dem sie 55-jährige Frauen aus verschiedenen Milieus und Altersgruppen über ihr Verhältnis zum eigenen Gesicht befragt. Sie selbst erklärte in einem Interview mit der Welt gerade, sie betrachte ihr Gesicht mit Falten, schweren Lidern und der weichen Haut am Hals wie einen »Baum«. »Perfekt so wie er ist.«
Auch Gwyneth Paltrow – 48 und eher unverdächtig, was demonstratives Altern angeht – zeigt sich auf Instagram seit einer Weile betont natürlich. In der aktuellen Schmuck-Kampagne für ihr Portal goop posiert sie ohne sichtbares Make-up. Schon klar, dass dieser Ungeschminkt-Look in Wahrheit nur zwanzig ganz einfache Schritte und Produkte erfordert, aber er kommt der Realität zumindest schon mal ein Stückchen näher. Oder sagen wir: der gewünschten Realität.
Auch ziemlich echt: Frances McDormand, Meryl Streep
Typischer Instagram-Kommentar: »Du siehst irgendwie so anders aus als sonst.«
Die nächste große Enthüllungs-Serie im Stern: »Wir haben was machen lassen.«