Kanye West entschuldigte sich am Morgen auf Instagram eher halbherzig dafür, dass er im Netz vor dem Superbowl »trendete«. Aber da kann der Mann noch so durchgeknallt gegen die Welt im Allgemeinen, Billie Eilish und Pete Davidson im Besonderen austeilen, irgendwann verdrängten der Football und die Halbzeit-Performance dann doch alles. Schließlich geht es hier um das meistgeschaute Sportevent des Jahres – und welcher Musik-Megastar dazwischen auf die Bühne darf, sagt eine Menge über den Zeitgeist aus.
Kurzer Überblick der letzten Jahre:
2017: Lady Gaga
2018: Justin Timberlake
2019: Maroon 5
2020: Shakira und Jennifer Lopez
2021: The Weeknd
2022: Tadaaa – nicht ein Star, nicht zwei, nicht drei, ganze sechs Stars mussten es diesmal sein. Allerdings konnte/wollte kein aktuelles Dreamteam aus Billie Eilish und Taylor Swift gegen Kanye West und Travis Scott gecastet werden, die Produktionsgesellschaft von Jay-Z entschied sich für ein Allstar- beziehungsweise Altstar-Aufgebot: Eminem, Dr. Dre, Kendrick Lamar, Mary J. Blige, 50 Cent und Snoop Dogg. Der Hip-Hop hatte also dieses Jahr die ganz große Ehre, was nach über vierzig Jahren Präsenz im amerikanischen Musikmarkt ohnehin längst überfällig war und nach Jahren der Rassismusvorwürfe als Statement der National Football League zu verstehen sein sollte. Eminem beendete seinen Song »Lose Yourself« mit dem entsprechenden Kniefall, mit dem der Quarterback Colin Kaepernick 2016 bei der Hymne gegen Rassismus und Polizeigewalt gegen Schwarze protestiert hatte. Musikalisch war die Edition 2022 ohnehin ein voller Gewinn.
Gleichzeitig unterstreicht die Besetzung aber auch zwei Trends, die fast überall zu beobachten sind. Erstens, die endlose Kombination von mehreren Marken oder Stars, frei nach dem Motto: »Zusammen sind wir weniger allein – und vervielfachen gleich noch mal die Aufmerksamkeit!« In der Musik hat jeder gerade ein Duett mit jemand anderem laufen. Im Showgeschäft und in der Mode wird so viel kooperiert wie noch nie, Gucci und Balenciaga machen gemeinsame Sache, Louis Vuitton mit Supreme, fehlt eigentlich nur noch eine Modenschau mit mehreren Absendern. Ach nee, das gab’s ja auch schon: Versace und Fendi für »Fendace« im vergangenen September.
Zum anderen ist das Line-up so retro wie unsere Instagram-Feeds und ein großer Teil der »aktuellen« Trends in den Läden. Neunzigerjahre, 2000er, da passen die Hip-Hop-Größen, die ihre ersten Hits in jenen Dekaden hatten, perfekt ins Bild. Allerdings traten sie (leider? glücklicherweise?) nicht vollständig im entsprechenden Look auf. Modisch war das heute Nacht im Vergleich zu Jennifer Lopez vor zwei Jahren, die an der Polestange mal eben ihren pinkfarbenen Rock von sich riss, eine ganz andere Nummer.
Im Grunde war das beste Unterhaltung für die ganze Familie, für jeden was dabei. Auf einigen der Bilder sieht es sogar so aus, als wäre das hier nicht »Los Angeles Rams vs. Cincinatti Bengals« sondern »LA Dadcore vs. Paradiesvögel«. Eminem, Kendrick Lamar und Dr. Dre traten ganz in Schwarz auf, Eminem mit Kapuzenpulli und Bomberjacke, Lamar mit einem goldbehängten Jackett, Dre mit einem Lederblouson, der ihm fast etwas Seniorenhaftes verlieh. 50 Cent hing kopfüber im weißen Muscleshirt mit Stirnband und dicker »50«-Kette, bevor er ebenfalls zu Schwarz wechselte.
Mary J. Blige dagegen – einzige Frau im Ensemble – trat in einem Outfit von Peter Dundas auf, der mal bei Roberto Cavalli angestellt war, und schon für Shakira vor zwei Jahren tätig geworden war. Ein silberner Body mit Leoprint aus Discokugel-Mosaiken. Dazu Cowboyhut, fingerlose Handschuhe und Overkneestiefel im gleichen Look. Irgendwo zwischen »Rodeo meets Bling-Bling« für alle Zuschauer, deren Adrenalinspiegel in der Halbzeitpause immer ein bisschen abzusinken droht. Dazu Snoop Dogg an ihrer Seite, der wahrscheinlich einzige Mann auf dieser Welt, der mit 50 ernsthaft einen blauen Mandala-Strampler mit gelben Kontraststreifen tragen kann (wobei das blaue Paisley-Muster eine Referenz an die Gang Rollin' 20's Crips ist, in der Snoop Dogg in seiner Jugend Mitglied war). Allein für diese Bandbreite möchte man eigentlich die nächsten Jahre immer mehrere Künstler auf dieser Bühne haben.
Kanye West übrigens, der mit seinen Kindern auf der Tribüne saß, kommentierte das Geschehen eifrig. Seine bisherige Anzahl von Superbowl-Auftritten: null.