»Wir brauchen die Verbindung mit unserer Familie« 

Boris Johnson ist der uneheliche Nachkomme des württembergischen Königshauses. Das fand die Ahnenforscherin Sabine Schleichert heraus. Aber ein anderer Fall hat sie noch mehr berührt.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Sie haben bewiesen, dass der britische Premierminister Boris Johnson von einem deutschen Adelsgeschlecht abstammt. Wie kam es dazu?
Sabine Schleichert: Etwa zwölf Jahre ist das her, er war gerade zum Bürgermeister von London gewählt worden, als mich die BBC für eine Dokureihe kontaktierte. Die Journalisten hatten in einem Buch gelesen, dass Boris Johnson ein unehelicher Nachkomme des Königshauses Württemberg sein sollte. Sie baten mich, die Belege dafür zu finden. Und ich habe sie gefunden.

Was war das für ein Gefühl?
Mei, das war halt Fernsehen. Ich sollte fünf Mal durch den Raum laufen und ein Buch aus dem Regal nehmen und habe immer irgendetwas falsch gemacht. Aber dass ich tatsächlich die Papiere fand, hat mich schon gefreut. Immerhin ging es um den ersten württembergischen König. So um 1806 setzte sein jüngerer Bruder Paul, der ein ziemlicher Hallodri gewesen sein muss, ein uneheliches Kind in die Welt. In diesem Papier, das ich fand, stand sinngemäß, dass sich eine junge Frau dem württembergischen König vor die Füße warf und ihn um Hilfe bat, weil sie die uneheliche Tochter seines Bruder sei. Und von ihr wiederum stammt Boris Johnson ab. So etwas kriegt man nicht alle Tage zu sehen. Wirklich berührt haben mich aber andere Fälle.

Zum Beispiel?
Wenn ich Familienzusammenführungen organisiere und es nach Jahrhunderten gelingt, den Kontakt zwischen zwei Familienzweigen herzustellen oder ich die leibliche Familie eines adoptierten Kindes ausfindig machen kann. Da denke ich mir oft, dass dieser Spruch vom Blut, das dicker als Wasser sein soll, wirklich stimmt.

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Inwiefern merken Sie das?
Vor Jahren beauftragte mich zum Beispiel ein Amerikaner, dessen Mutter ihn als Kind vor dem Pfarrhaus im Münchner Nobel-Stadtteil Grünwald ausgesetzt hatte. Es war Nachkriegszeit, sie lebte in irgendeinem Schuppen, hatte schon drei Kinder und sah keine Möglichkeit, noch eins durchzubringen. Noch dazu war das Kind als Resultat einer Vergewaltigung durch einen amerikanischen Soldaten entstanden. Sie dachte, dass sich in Grünwald, dieser reichen Gegend, schon jemand um das Kind kümmern würde. Auf eine gewisse Weise funktionierte das auch: Ihr Sohn wurde später Polizist in Amerika. Als er mich kontaktierte, wusste er von seiner Mutter nur den Namen. Doch ich schaffte es, diese Mutter zu finden. Die beiden luden mich ein und erzählten, dass sie ganz ähnliche Vorlieben und Abneigungen beim Essen und bei der Einrichtung hatten – obwohl sie sich fünfzig Jahre, seit der Geburt des Sohnes, nicht gesehen hatten. Und obwohl sie ganz anders aussahen, er war zwei Meter groß und sie eine zierliche 80-jährige Dame, sprachen sie Fremde darauf an, ob sie Mutter und Sohn seien. So etwas ist spannend und berührend.

Wie wurden Sie Ahnenforscherin?
Ich habe Geschichte studiert und mein Mann ist Softwareentwickler. Er war Anfang der Neunziger in verschiedenen Computerforen unterwegs. Irgendwann entdeckte er eines, in dem jede Menge Amerikaner mit deutschem Nachnamen wissen wollten, wer ihre Vorfahren waren. Ich kam dann darauf, dass ich ihnen helfen kann. Bis heute sind fast 90 Prozent meiner Kunden Amerikaner. Ungefähr um dieselbe Zeit fand mein Mann den Ahnenpass seiner Familie. Während des Nationalsozialismus mussten alle mindestens zwei Generationen zurück nachweisen, wer ihre Vorfahren waren, um auszuschließen, dass sie von Juden abstammten. Seine Familie forschte damals aus Interesse noch weiter. Der älteste Eintrag auf seiner väterlichen Vorfahrenseite ist aus den 1770er Jahren. Da heiratet ein Johann Melchior Schleichert eine Sabine Schmidt. Mein Mann heißt Johann Schleichert und jetzt raten Sie mal, welchen Mädchennamen ich hatte!

Schmidt?
Ganz genau. Wir haben da drauf geguckt und gesagt: Nee, das stimmt nicht. Das war nicht 1770, das war 1992. Ich verbrachte dann noch zwei Tage im Archiv, um mehr herauszufinden, aber ich kam da nie weiter. Trotzdem ist das der Fall meines Lebens, weil der mich erst auf den Beruf gebracht hat. Zusammen mit der Chile-Geschichte.

Erzählen Sie davon.
Ungefähr zur selben Zeit, als dieser Ahnenpass auftauchte, stellten mein Mann und ich fest, dass wir beide ungeklärte Familiengeschichten in Chile hatten. Sein Großvater ist 1937 dorthin verschwunden und hat seine Frau und seinen zweijährigen Sohn in Österreich sitzen lassen. Die Gründe sind bis heute nicht geklärt und wer auch immer etwas darüber wusste, hat nie wieder darüber gesprochen. Das ist wie ein Loch. Und so ein Loch gibt es auf meiner Seite auch: Meine Großmutter ist 1903 in Chile als Nachfahrin deutscher Auswanderer geboren. Ihre Familie war angesehen, hatte Personal und einen riesigen Grundbesitz. Mit dem Pferd brauchte sie einen Tag, um einmal drum herumzureiten. Diese Großmutter kehrte dann mit ihrer Mutter im Alter von 17 Jahren zurück nach Deutschland, wo sie einen kleinen Buchhalter heirate. Das Verlassen ihrer Heimat und diesen sozialen Abstieg hat sie nie verwunden. Ich kannte sie als eine bittere, unzufriedene Frau. Doch weshalb ist sie überhaupt aus Chile weg?

Haben Sie Ihre Großmutter nie gefragt?
Nein, ich habe mich nicht getraut. Außerdem war ich, als sie starb, knapp über 20. Also lange bevor ich dieses Interesse entwickelte.

Bereuen Sie das?
Ein Stück weit schon. Doch das ist eine Erfahrung, die die Menschen oft machen. Wenn sie mal so alt sind, dass sich für die Familiengeschichte interessieren, sind alle weg, die sie fragen könnten.

Aber ich habe das Gefühl, dass diejenige, die früh ihr Zuhause verloren haben, sich besonders intensiv auf die Suche nach ihren Wurzeln machen

Haben Sie und Ihr Mann noch weiter in Ihren Familiengeschichten geforscht?
Ja, aber wir sind nicht mehr weit gekommen. Eines Tages fanden wir einen Stapel Briefe, aus denen hervorging, dass der Großvater meines Mannes noch mindestens zwei Jahre Kontakt zu seiner Familie hielt. Er schrieb, dass er an einem Nebenfluss des Amazonas nach Gold suchte – während seine Frau alleine mit ihrem Sohn in der Nähe von Wien saß. Doch bis heute ist nicht klar, warum er ging. Aus Abenteuerlust? Aus wirtschaftlichen Gründen? Oder politischen? Schließlich war das, kurz bevor Österreich Nazi-Deutschland zugewiesen wurde. Vor fünf Jahren flog mein Mann nach Chile, um Spuren seines Großvaters zu suchen. Zumindest fand er das Grab und die Sterbeurkunde. Damit ist Frieden eingekehrt. Auch wenn Fragen offen bleiben – zum Beispiel, ob er noch einmal heiratete und eine neue Familie gründete.

Wie sehr haben Sie und Ihren Mann diese Löcher in Ihrer Familiengeschichte belastet?
Wann immer wir seine Familie in Österreich besuchten, kam das irgendwie zu Sprache. Doch das große Rätsel nach dem Warum blieb ungelöst. Denn alle Beteiligten waren tot. Es war wie ein großes Fragezeichen, das im Raum schwebte. Und auf meiner Seite war das ähnlich. Ich denke, mein Vater hat in seiner Familie durch die Bitterkeit seiner Mutter gelitten. Der Verlust der Heimat, der soziale Abstieg – das prägt eine Familie und damit auch mich. Aber da sind wir eher bei psychologischen Zusammenhängen und nicht mehr bei der Genealogie.

Sie sind Ahnenforscherin und Schamanin. Hilft Ihnen das bei Ihrem Beruf?
Es kam einmal vor, dass ich in einem Fall nicht weiterkam und dann ist mir plötzlich im Traum ein Ort erschienen. Es hat sich so real angefühlt, dass ich dachte, vielleicht führt mich das weiter. Also schrieb ich an das Einwohnermeldeamt. Aber die Person, die ich suchte, konnte nicht gefunden werden. Was ich damit sagen will: Das eine hat mit dem anderen nicht unbedingt viel zu tun. Genealogie ist die Suche nach den Fakten. Das andere ist eine sehr viel fließendere Ebene der Realität. Im schamanischen Arbeiten kann zwar durchaus die Arbeit mit den Ahnen eine große Rolle spielen, nur für mich tut sie das nicht – vielleicht, weil ich es dort zu sehr gewohnt bin, mich an den Dokumenten zu orientieren. Insofern vermische ich das nicht. Die Motivation dahinter ist meines Erachtens aber dieselbe: die Suche nach den Wurzeln.

Warum ist es für die Menschen so wichtig, zu wissen woher sie kommen?
Weil die Verbindung mit uns und unserer Familie etwas ist, das wir brauchen. Ich kenne die Motivation meiner Klienten nicht immer. Aber ich habe das Gefühl, dass diejenige, die früh ihr Zuhause verloren haben, sich besonders intensiv auf die Suche nach ihren Wurzeln machen.

Glauben Sie, dass Sie und Ihr Mann durch die Ähnlichkeiten in Ihrer Familiengeschichte eine besondere, spirituelle Verbindung haben?
Ich würde nicht sagen, dass da ein Geist dahintersteckt, der sich etwas dabei gedacht hätte. Das ist Zufall, aber ein spannender, der uns viele Türen geöffnet hat.