SZ-Magazin: Wie sind Sie zur Dolmetscherin eines Erzbischofs geworden?
Petra Dietrich (56): 2010 hatte mich eine Kollegin für die »Fastenaktion« des katholischen Hilfswerks Misereor angefragt, bei der jedes Jahr internationale Gäste aus Afrika, Asien und Lateinamerika nach Deutschland kommen und von sozialen Projekten aus ihrer Heimat berichten. Ich habe mich gefreut, weil es interessant klang und ein großes Auftragsvolumen war. Dann hieß es: »Du übernimmst übrigens den Erzbischof.« Da bin ich etwas erschrocken.
Warum?
Weil Luiz Soares Vieira der ranghöchste Gast war. So einen Erzbischof aus Manaus in Brasilien trifft man nicht jeden Tag.
Wie haben Sie sich vorbereitet?
Ich bin evangelisch und musste mich erstmal in die Hierarchien der katholischen Kirche einarbeiten. Ich habe mir ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen gemacht und einen katholischen Gottesdienst besucht. Von Misereor und übers Internet habe ich Informationen über den Erzbischof und seine Projekte bekommen. Außerdem habe ich das Buch »Was in zwei Koffer passt« gelesen: Die Autorin hatte als junge Frau überlegt, Nonne zu werden, und ist darum testweise in ein Kloster gezogen.
»Wie sagt man da? ›Euer Hochwürden‹?«
Wann haben Sie den Erzbischof das erste Mal getroffen?
An dem Tag, als unsere Reise losging. Ich hatte vorher ein bisschen Sorge und habe mir einen völlig unnahbaren, kirchlichen Würdenträger vorgestellt – und mich auch gefragt, wie ich ihn überhaupt anreden sollte. Wie sagt man da? »Euer Hochwürden«?
Und?
Es war ein kleiner, sehr flinker Mann, sehr charismatisch, mit einer sympathischen Ausstrahlung und überhaupt nicht kompliziert im Umgang. Ich habe ihn dann tatsächlich einfach mit »Dom« angeredet.
Wie sind Sie gereist?
Mit dem Zug, unter anderem nach Münster, Köln, Leverkusen, Freiberg, Schwarzenberg und Fürth. Ich habe drei Wochen lang wirklich ununterbrochen mit ihm zusammengearbeitet. Das ist nicht zu vergleichen mit einem Einsatz auf einer Konferenz, wo man relativ anonym in der Dolmetscherkabine sitzt und denjenigen, den man verdolmetscht, maximal in der Pause beim Kaffee trifft.
Haben Sie auf den Reisen auch privat gesprochen?
Klar, im Zug oder beim Essen sind wir immer wieder ins Gespräch gekommen. Ich habe ihn vor allem viel zu seiner Arbeit im Amazonas-Gebiet befragt, weil mich das unglaublich interessiert hat. Er war in Manaus als Radiobischof bekannt, weil er sonst die Menschen in diesem riesigen Gebiet gar nicht alle hätte erreichen können. Wenn er Gemeinden aufgesucht hat, war er oft tagelang mit dem Boot unterwegs. Ich erinnere mich, dass er erzählt hat, wie die Männer manchmal während der Gottesdienste zum Rauchen rausgegangen sind, und dass man das akzeptieren müsse. Denn wenn man auf die Menschen zugehen und mit ihnen Kontakt halten wolle, dürfe man sie nicht maßregeln.
»Irgendwann hat er mich gefragt, ob ich online die Fußballergebnisse von Brasilien checken könnte«
Und wenn es nicht um seine Arbeit ging?
Wir haben über alles Mögliche geredet. Irgendwann hat er mich gefragt, ob ich online die Fußballergebnisse von Brasilien checken könnte. Auf einer Zugfahrt saß eine junge, allein reisende Mutter mit ihrem etwa sechs Monate alten Kind in unserer Nähe. Sie hat am Kragen erkannt, dass er ein katholischer Würdenträger ist, und uns angesprochen. Als sie zur Toilette musste, bat sie uns, das Kind zu halten. So saßen dann der Erzbischof und ich abwechselnd mit dem Baby auf dem Schoß da und spielten mit ihm. Die offene Art und die Unkompliziertheit im Umgang mit diesem Mann haben mich sehr beeindruckt.
Sie haben auch seine Predigten gedolmetscht. Wie war das für Sie?
Schwierig. Man ist da vorne neben dem Altar schon sehr präsent.
Haben Sie den Text der Predigt vorher bekommen?
Leider nein, denn er hat immer spontan gesprochen. Aber er hat sich auch sehr klar ausgedrückt und von der Bibelstelle schnell den Bogen zum Hier und Jetzt gespannt. Sein Thema war vor allem der Schutz des Amazonasregenwaldes. Er hat sich gegen den Bau des Staudamms Belo Monte eingesetzt, der damals noch nicht begonnen hatte, und vor der Zerstörung der Natur und der Verdrängung der indigenen Bevölkerung gewarnt.
»Seitdem versuche ich, alles im Leben sehr differenziert zu betrachten«
Hat dieser Einsatz verändert, wie sie die katholische Kirche oder den christlichen Glauben wahrnehmen?
Ja, auf jeden Fall. Im Januar 2010, also kurz vor der Fastenaktion, ist der Missbrauchsskandal am Canisius-Kolleg bekannt geworden. Wenn ich im Bekanntenkreis gesagt habe, dass ich jetzt drei Wochen für die katholische Kirche in Einsatz sein würde, haben alle sofort daran gedacht – ich selbst auch. Aber auf der Reise habe ich dann nochmal einen ganz anderen Blick auf die Kirche bekommen. An der Basis gibt es teilweise bewundernswerte Arbeit mit sehr großem sozialen Engagement. Seitdem versuche ich, alles im Leben sehr differenziert zu betrachten.
Haben Sie mir dem Erzbischof auch über den Missbrauchsskandal gesprochen?
Ich habe das Thema vermieden und er hat es auch nicht angesprochen. Im Zeitraum der Fastenaktion findet allerdings immer die Bischofskonferenz statt. Dort war der Missbrauch natürlich ein wichtiges Thema.
Hatten Sie nach der Abreise des Erzbischofs noch Kontakt zu ihm?
Ich habe ihm zum Geburtstag geschrieben. Er hat er mir geantwortet: »Liebe Petra, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich über die Glückwünsche gefreut habe«, und mir noch mal von seiner aktuellen Arbeit in Brasilien berichtet. Die E-Mail habe ich aufgehoben, sie hängt an meiner Pinnwand.
Das Belo-Monte-Kraftwerk wurde mittlerweile gebaut und der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro treibt die Rodung des Regenwalds voran. Denken Sie manchmal an den Erzbischof, wenn Sie die aktuelle Lage in Brasilien sehen?
Ja. Der Staudamm war damals ein Projekt, dass er aufhalten wollte – und jetzt muss man befürchten, dass es Hunderte dieser Art geben wird und dass der Regenwald großflächig abgeholzt wird, ohne Rücksicht auf die Umwelt und das Klima, aber auch ohne Rücksicht auf die dort lebende Bevölkerung. Manchmal frage ich mich schon, was Dom Luiz wohl dazu sagt.