SZ-Magazin: Sie sind evangelische Diakonin. Wie beeinflusst Ihr Glaube Ihre Arbeit?
Anna-Sofie Gerth (30): Für mich macht es Sinn, soziale Arbeit mit einem geistlichen Background zu verknüpfen. Ich leite die City-Station in Berlin. Dort bekommen Menschen mit und ohne Wohnung soziale Beratung, Seelsorge und gutes Essen. Mein Glaube hilft mir, wenn ich an Grenzen stoße. Und abends gehe ich beruhigter in den Feierabend, weil ich weiß, dass Gott auch bei den Menschen ist, die auf der Straße schlafen, auch wenn das vielleicht naiv klingt. Man muss aber nicht gläubig sein, um zu uns zu kommen. Wir kümmern uns um jeden Menschen, der in Not ist.
»Der Nachtisch ist ganz wichtig, weil er etwas mit der Psyche macht«
Welche Menschen kommen in die City-Station?
Manche unserer Gäste haben ihr Leben lang im Niedriglohnsektor gearbeitet und nur eine klitzekleine Rente, andere sind durch Schicksalsschläge wie den Verlust der Arbeit oder den Tod des Partners in eine Abwärtsspirale geraten und wohnungs- oder obdachlos. Bei uns gibt es etwas zu Essen: Suppe, Hauptgericht, Salat und Nachtisch. Der Nachtisch ist ganz wichtig, weil er etwas mit der Psyche macht. Wer einen Pudding isst, dem geht es gleich ein bisschen besser.
Sprechen wir über den Fall Ihres Lebens. Wer ist Achim?
Achim ist ein richtiger Charmeur. Wenn er mal nicht meine volle Aufmerksamkeit bekommt, wird er eifersüchtig: »Ach komm, Anna-Sofie, setz dich zu mir. Ich bin jetzt dran!« Achim ist um die 60, trägt eine Tüte mit sich herum und ist nicht sehr gepflegt. Er freut sich, mal ein Bierchen ausgegeben zu bekommen und ist immer gut informiert, wann Christopher Street Day ist, wann Karneval der Kulturen und wann der Coca-Cola-Truck zur Weihnachtszeit nach Berlin kommt.
»Achim war richtig stolz, mir ein Geschenk gemacht zu haben«
Welche Situation macht ihn zum Fall Ihres Lebens?
Als ich in die S-Bahn einstieg, hörte ich ihn rufen: »Hallöööchen, Anna-Sofieee!« Berlin ist so groß, da laufe ich selten Menschen aus der City-Station über den Weg. Die Gesichter der Fahrgäste fragten: »Wieso kennt der Obdachlose diese junge Frau?« Achim zog dann zwei Kaubonbons aus der Hosentasche und sagte: »Eins für dich, eins für mich.« Ehrlich gesagt musste ich mich ganz schön überwinden, das Bonbon in den Mund zu nehmen. Ich wusste ja nicht, wie lange er das schon in seiner Hosentasche mit sich herumgetragen hatte. Achim war richtig stolz, mir ein Geschenk gemacht zu haben. So lutschten wir gemeinsam Bonbons in der Bahn.
In der Obdachlosenhilfe erleben Sie täglich schöne, aber auch traurige Momente. Wieso war diese Situation besonders für Sie?
In meiner Arbeit versuche ich immer, eine persönliche Beziehung aufzubauen. Die Situation hat mir gezeigt, dass mir das bei Achim gelungen ist. Es war nicht leicht, sein Vertrauen zu gewinnen. Achim lebt seit über 30 Jahre auf der Straße. Obdachlosigkeit bedeutet permanente Angst und kein Vertrauen – in niemanden. Achim hat Angst vor Übergriffen, Angst, dass er beklaut wird, Angst, dass er sich den Alkohol nicht gut einteilen kann. Es dauerte fast ein Jahr, bis er begann, mir seine Geschichte zu erzählen. Kaum Liebe im Elternhaus, kein Schulabschluss und immer wieder kleinere Delikte – hier mal ein Diebstahl, da mal schwarzgefahren. Ich glaube, er verpasste in jungen Jahren eine Chance.
»Solange ich einen vollen Kühlschrank habe und Eltern und Freunde, die mich lieben, ist es mein Job, gut gelaunt zur Arbeit zu erscheinen«
Wie konnten Sie Vertrauen aufbauen?
Mit viel Zeit und Geduld. Eines Tages hielt Achim einen Brief vom Jobcenter in der Hand und sagte: »Kannst du mir den vielleicht vorlesen?« So habe ich herausgefunden, dass Achim kaum lesen und schreiben kann. Ich sagte dann »Klar, mache ich« und schob erst im zweiten Schritt nach: »Lesen fällt dir schwer, nehme ich das richtig wahr?« In solchen Situationen ist es wichtig, sich Zeit zu nehmen und der Person klarzumachen, dass sie wertvoll ist und Würde hat. Dann kann man auch Klartext reden. Vor ein paar Tagen hatte Achim Brandblasen an den Armen, weil er ohne Sonnencreme im Suff eingeschlafen war – da habe ich Tacheles mit ihm geredet.
Sie klingen optimistisch, wenn Sie über Ihre Arbeit reden. Gibt es auch Situationen, die Sie frustrieren?
Häufig habe ich das Gefühl, in meiner Arbeit drei Schritte nach vorne und sechs Schritte zurück zu gehen. Auch Achim ist manchmal grummelig oder pöbelig. Aber der Punkt ist ja: Solange ich einen vollen Kühlschrank habe und Eltern und Freunde, die mich lieben, und zweimal im Jahr in den Urlaub fliege, ist es mein Job, gut gelaunt zur Arbeit zu erscheinen. Von obdachlosen Menschen kann ich das nicht erwarten.