SZ-Magazin: Kann man sagen, dass Kinder an einer Sonderschule schlechte Karten haben, einen schwierigen Start ins Leben?
Eva Bauer: Die meisten, aber nicht alle. Es gibt auch Kinder, deren Eltern sie gut unterstützen und fördern. Oder Kinder mit Migrationshintergrund, die wegen ihrer schlechten Deutschkenntnisse an die Sonderschule kommen und dann immer besser Deutsch lernen. Bei uns an den Sonderschulen freut man sich aber schon sehr, wenn die Kinder später irgendeine Art von Beruf ergreifen.
Wir beide kennen uns privat gut, deswegen duzen wir uns in diesem Interview. Warum bist du Sonderschullehrerin geworden?
Ich habe nach der Schule ein Soziales Jahr im Kindergarten gemacht. Da habe ich gemerkt, dass mir der Umgang mit schwierigen Kindern besonders liegt. Und Unterrichten, dachte ich, könnte mir auch liegen. Dann habe ich Verhaltensgestörtenpädagogik studiert. Meistens unterrichte ich die Klassen eins bis vier.
Was heißt: schwierige Kinder?
Verhaltensauffällige Kinder. Manche haben ADHS, manche autistische Züge, viele können sich nicht gut an Regeln halten. Oder das andere Extrem: besonders introvertierte Kinder, die sich anfangs gar nicht trauen zu sprechen. Es sind alles Kinder, die sich nicht so leicht integrieren lassen.
»Paul fühlte sich schnell angegriffen von seinen Mitschülern, hat Tische umgeworfen und gebrüllt: ›Ich hau ab und komm nicht mehr wieder!‹«
Du möchtest hier von Paul erzählen. Warum gerade Paul?
Seine Geschichte hat mich sehr berührt. Er war eines von vier Kindern. Die Mutter hat alle sehr jung bekommen, beim ersten war sie 16. Ich glaube, alle waren auch von unterschiedlichen Vätern. Jedenfalls hat die Mutter die Kinder allein großgezogen. Sie war ziemlich überfordert mit den vier Jungs. Sie hat auch mal versucht, sich umzubringen. Darauf zogen die Jungen in ein Heim, und so kam Paul zu mir in die Klasse. Es war meine erste Klasse nach dem Studium, in Augsburg, 13 Jahre ist das jetzt her. Paul fiel gleich auf. Große, dunkle Augen, zierlich für sein Alter, ich glaube, er war acht. Erst einmal wirkte er sehr schüchtern. Er konnte sich schlecht konzentrieren, war mit den Gedanken oft woanders. Und er hatte gleich ganz große Wutanfälle. Er fühlte sich sehr schnell angegriffen von seinen Mitschülern, hat dann Tische umgeworfen, ist rausgerannt und hat gebrüllt: Ich hau ab und komm nicht mehr wieder! Er war kaum zu bändigen. Aber gleichzeitig konnte er unglaublich charmant und lieb sein. Er war in der Klasse sehr beliebt, und das, obwohl er auch immer wieder gehauen hat.
Dass er sehr lieb sein konnte: Wie äußerte sich das?
Ich bin mal kurz aus der Klasse raus, um irgendwas zu holen. Da wurden die Gummibärchen geklaut, die im Lehrerpult lagen. Als ich zurück war, habe ich gesagt, ich würde mir wünschen, dass das Kind nachher zu mir kommt und sich überlegt, wie es das wiedergutmachen kann. Das Kind kam dann tatsächlich – Paul. Er sagte, er will einen Kuchen für die Klasse backen. Das hat er dann mit einem Erzieher im Heim gemacht. Er war immer wieder reumütig und hat sich sehr bemüht. Für ihn, wie für viele andere Kinder, die in belastenden Lebenssituationen aufwachsen, ist die Schule mit ihren festen Strukturen und ihrer Beständigkeit wichtig. Eine geordnete Welt im Chaos.
»Die Mutter hat immer wieder Versprechungen gemacht: Ich komme dich besuchen, ich hole dich wieder zu mir«
Wurden die Wutanfälle seltener?
Ja. Ich habe gemerkt, dass ich ihn erreiche und dass er an Selbstbewusstsein gewinnt. Aber im Heim war es sehr schwierig. Paul hat dort viel geklaut. Seine Erzieher haben entdeckt, dass sein Schrank gefüllt war mit unsinnigem Zeug, irgendwelchen Sachen von anderen Kindern. Krimskrams, wo es nicht um die Gegenstände selbst ging, sondern wohl darum, sich kleine Glücksmomente und Trost zu verschaffen. Und die Mutter hat immer wieder Versprechungen gemacht: Ich komme dich besuchen, ich hole dich wieder zu mir … Aber dann hat sie das nie wahrgemacht, sondern sich einen oder mehrere Hunde angeschafft, die dann in ihrer kleinen Wohnung gelebt haben. Sie hatte auch wechselnde Partner, es ging weiter drunter und drüber. Auch Pauls Geschwister waren sehr verhaltensauffällig.
War er ein Kind, das du mit in deine Nachtgedanken genommen hast?
Ja. Ich war ungefähr 30, das Thema eigene Kinder war noch weit weg. Ich dachte, am liebsten würde ich dieses Kind adoptieren und zu mir nehmen – wenn er in einer Pflegefamilie aufwachsen könnte, mit Menschen, die für ihn da sind, hätte er eine Chance! Es gab da auch Bemühungen vom Jugendamt. Die vier Geschwister wollten unbedingt zusammenbleiben. Es wurde eine Pflegefamilie gefunden, die alle Kinder am Wochenende genommen hat, aber sie haben auch dort geklaut, da ist die Pflegefamilie abgesprungen.
Wie bist du auf dem Laufenden geblieben, nachdem Paul deine Schule verlassen hatte?
Ich habe ihn mal in der Stadt getroffen, da war er 13. Er wirkte nicht besonders glücklich. Er erzählte, es laufe nicht so gut. Weil er was gestohlen hätte, habe er Probleme mit der Polizei gehabt. Ich hatte den Eindruck, es geht den Bach runter mit ihm. Da habe ich ihm meine private Telefonnummer gegeben und angeboten, er kann mich immer anrufen, wenn er Hilfe braucht. Er hat aber nie angerufen.
»Es war total rührend, diesen großen Mann auf diesen kleinen Kinderstühlen zu sehen, hinter diesen kleinen Bänken«
Und dann?
Irgendwann kam ich von der Pause wieder zurück zu meinem Klassenzimmer. Da stand ein junger Mann im Flur, so 18, 19 Jahre alt. Groß, schlank, gutaussehend. Ich musste zweimal hingucken. Aber die Augen, die Gesichtszüge, das war alles noch da. Paul hat mir erzählt, dass er jetzt woanders lebt, in Augsburg zu Besuch ist und dass er die Gelegenheit nutzen wollte, mich mal zu besuchen. Ich habe mich riesig gefreut. Er sagte, dass er in einer begleiteten WG mit anderen Jugendlichen wohnt und eine Ausbildung macht, ich glaube, zum Kfz-Mechaniker. Und dass er auf den Führerschein spart, das war ihm sehr wichtig. Seine Brüder würden wieder bei der Mutter wohnen, er habe sich dagegen entschieden, weil er dachte, dann schaffe ich es morgens nicht, aufzustehen, und kriege die Lehre nicht zuende. Er machte einen ganz stolzen Eindruck, hat gestrahlt, schien in sich zu ruhen. Er blieb noch eine ganze Stunde bei mir im Klassenzimmer und hat den Kindern ein bisschen geholfen. Es war total rührend, diesen großen Mann auf diesen kleinen Kinderstühlen zu sehen, hinter diesen kleinen Bänken.
War Paul für dich auch eine Bestätigung: Ich habe den richtigen Beruf gewählt?
Ja, solche Erfolgserlebnisse sind das, was am meisten Freude macht. Wenn man sieht, dass man was bewirken kann. Dass man eine Beziehung aufbaut, den Kindern zeigen kann, dass man an sie glaubt.
Hast du seitdem wieder von Paul gehört?
Nein. Wir sind so verblieben, dass er wieder vorbeikommt, wenn er in Augsburg ist. Ich bin dann aber recht bald nach München gewechselt. Jetzt bin ich in Frieden mit dieser Geschichte. Ich habe das Gefühl, es geht ihm gut, und kann loslassen.
* Paul heißt in Wirklichkeit anders, wir haben seinen Namen aus Gründen des Pesönlichkeitsschutzes geändert.