In der S-Bahn zwischen Frankfurt Hauptbahnhof und Frankfurt Flughafen wird mir auf einmal klar, dass ich mich mit der Deutschen Bahn identifiziere. Plötzlich empfinde ich sie als meine Bahn. Das ist einerseits seltsam, weil ich in den letzten Jahren für tausende Euro Fahrkarten kaufen musste, da ist das besitzanzeigende Pronomen wohl unangebracht. Andererseits ist dieses Gefühl so falsch auch wieder nicht, denn als Steuerzahler bin ich ja quasi Miteigentümer der im Besitz des Bundes befindlichen Bahn. Nur fühle ich leider keinen Besitzer-Stolz, sondern das Gegenteil.
Gerade ist etwas passiert, das selbst mir als Leid geprüftem Bahnfahrer unfassbar erscheint. 15 Minuten vor der regulären Abfahrtszeit des ICE nach Brüssel heißt es noch, dass der Zug unbestimmt verspätet sei. Ich stelle mich kurz in die Sonne auf dem Bahnhofsvorplatz. Fünf Minuten später bin ich zurück am Gleis und lese auf der Anzeigetafel, dass der Zug heute außerplanmäßig nicht am Hauptbahnhof abfahren werde, sondern am Flughafen. Der nächste Zug dorthin ist eine S-Bahn. Ich treffe darin auf Menschen, die Englisch sprechen und nach Brüssel wollen. Sie wirken verstört. Ein Mann Mitte 20, blond, Dreitagebart, checkt sein Handy und gibt einer Gruppe von Frauen im gleichen Alter jeweils durch, wie die Chancen stehen, den Zug am Flughafen noch zu erwischen. Er verzieht das Gesicht – heißt, es wird knapp. Kopfschütteln allerorten.
Hätte nicht irgendjemand von der Bahn mitfahren können bis zum Flughafen, statt die Fahrgäste derart brutal sitzen zu lassen?
Ich stehe neben einem Mann im Anzug, der »Scheiß Bahn« flucht. Soweit nichts Ungewöhnliches. Aber dann erzählt er mir, was passiert ist. Der ICE nach Brüssel habe am Hauptbahnhof bereits am richtigen Bahnsteig gestanden, mehr als hundert Fahrgäste hätten davor gewartet, dass nun gleich die Türen aufgehen. Doch dann habe es eine Durchsage gegeben, dass der Zug jetzt leider wegen Personalmangel leer zum Flughafen fahren müsse und erst dort beginne. Diese ganzen Menschen um mich herum sahen also ihren Zug vor sich – und durften nicht einsteigen. Stattdessen riet man ihnen, den ICE mit der S-Bahn zu verfolgen, was natürlich nicht geklappt hat. Der ICE nach Brüssel hat nicht gewartet – weder am Flughafen, noch später in Köln. In der Bahnstatistik galt damit übrigens als pünktlich.
Hätte nicht irgendjemand von der Bahn mitfahren können bis zum Flughafen, statt die Fahrgäste derart brutal sitzen zu lassen? Statt bequemer Direktverbindung nach Brüssel müssen sie nun zweimal umsteigen, haben für die Alternativ-Züge keine Reservierungen und eine zwei Stunden längere Fahrzeit. Mein persönlicher Ärger hält sich in Grenzen, ich muss nur bis Köln, dorthin fahren ständig Züge. Stärker ist die Scham, die ich zu meiner eigenen Überraschung für die Deutsche Bahn empfinde. Wie verhohnepiepelt müssen sich die internationalen Gäste fühlen?
Mit dieser Empfindung bin anscheinend nicht allein. Ein Leser schrieb mir von einer Horror-Fahrt in einem EC, der aus Österreich kommend nach Dortmund fuhr, 50 Minuten verspätet und um vier Wagen zu kurz. »Diese Resterampe von Zug kam tatsächlich aus Klagenfurt. Schämt sich die DB nicht, einen solchen Zug in Österreich anzubieten?« Meine Tante wunderte sich zuletzt, als sie an einem Schalter der Schweizer Bundesbahnen eine Verbindung empfohlen bekam, bei der nur vier Minuten Zeit für den Umstieg war. »Kann das wirklich klappen?« Der Schalterbeamte lächelte sie daraufhin süffisant an und sagte: »Bei uns sind die Züge ja pünktlich, das ist nicht wie in Deutschland, wo es nur eine unverbindliche Abfahrtsempfehlung mit Gleisvorschlag gibt.« Meine Tante schämte sich für die Deutsche Bahn.
Das Wort Flugscham kommt aus Schweden und hat international rasch Karriere gemacht – die Bahnscham bleibt ein deutsches Phänomen. Haben Sie auch schon mal so empfunden? Dann schreiben Sie mir, wenn Sie Lust haben, Adresse siehe unten.