Eine Oberleitungsanlage der Bahn - und eine tödliche Gefahr: Jahr für Jahr sterben Menschen durch Stromunfälle. Wer bei der Bahn mehr Sicherheit fordert, gilt schnell als Querulant.
Den Knall, der den Tod begleitet, werden alle Zeugen des Unglücks gleich beschreiben: laut. Wie eine Explosion, ein großer Chinaböller, ein krachender Blitzeinschlag. Einen Moment später liegen zwei Männer wie hingeworfen auf dem Bahnsteig des S-Bahnhofs Hannover-Nordstadt, reglos, brennend und seltsam verrenkt. Neben ihnen verrußte Pinsel und Malerrollen, versengte Wischlappen und die Reste eines zusammengeschmolzenen Kübels. Eine Aluminiumleiter ragt quer hinauf zur Oberleitung, dort oben schlagen immer noch Funken, während der Sturm den Regen ins Gleisbett peitscht. Wie Einschusslöcher sehen die Stellen aus, an denen der Strom an diesem 16. Juli 2012 in den Boden des Bahnsteigs schlägt – über jene Leiter, die von einer Windböe an die Oberleitung gerissen wurde, die aber niemals dort hätte stehen dürfen, wo sie stand.
Die Wirkung der 15 000 Volt, die aus der Oberleitung herabschießen, ist fatal: An den Händen, den Eintrittsstellen, verkohlt die extreme Hitze augenblicklich Haut, Sehnen, Muskeln und Fett. Sekundenbruchteile später ist der gesamte Körper bewegungsunfähig, die Muskeln krampfen und sind wie gelähmt. Das Herz kann nicht mehr schlagen, die Lunge nicht mehr pumpen, das Hirn bekommt keinen Sauerstoff mehr. Herzstillstand, Atemstillstand, Hirntod.
Aber waren die beiden Männer selbst schuld an ihrem Tod? Das ist, was die Bahn behauptet.
Zwei Jahre zuvor, November 2010: Thomas Kahrst* wird beauftragt, eine Serie von schweren Stromunfällen bei der Deutschen Bahn zu beenden. Innerhalb von nur zweieinhalb Jahren starben drei Handwerker externer Firmen bei Arbeiten, die von der Bahn beauftragt worden waren, vier weitere Männer wurden schwer verletzt. Offensichtlich gibt es ein Sicherheitsproblem im Fachbereich »Fremdfirmen«. Kahrst, damals 53, seit mehr als 30 Jahren Beamter der Deutschen Bahn, Gebiet: Elektrotechnik, Rang: Technischer Bundesbahnamtsrat, soll das Problem lösen.
Zuletzt geriet am 3. November 2010 in Triberg im Schwarzwald ein Arbeiter beim Mähen eines Steilhangs an die Oberleitung und wurde schwer verletzt. Eine Woche später schrieb eine Führungskraft der Bahn eine aufgeregte Rundmail: Obwohl die Polizei ihre Ermittlungen gegen die Deutsche Bahn eingestellt habe, rate er, alle Arbeiten dieser Art zu stoppen und das eigene Vorgehen zu prüfen.
Kein Wunder: Aus einem internen Vermerk zu jenem Unfall in Triberg geht hervor, dass vor allem Fehler auf Seiten der Deutschen Bahn zu dem Unfall geführt hätten. So sei etwa eine »zwingend erforderliche Gefährdungsbeurteilung« nicht vorgenommen und die beteiligten Arbeiter und Bauüberwacher gar nicht oder nicht korrekt in die Gefahr eingewiesen wurden. Schwerwiegende Versäumnisse, die man aber anscheinend der ermittelnden Polizeibeamtin nicht so deutlich offenlegte – sonst wäre diese wohl kaum zu dem Schluss gekommen, der Unfall sei DB-Mitarbeitern nicht anzulasten. Dennoch riet die Polizistin der Bahn in ihrem Abschlussbericht, doch mal die Sicherheitsrichtlinien zu überdenken.
Im November 2010 ist man sich bahnintern einig: Die bisherigen Regeln greifen zu wenig; und die Männer und Frauen, die neben den Gleisen Bäume fällen oder Bahnhofsmauern streichen, können die Gefahr nicht gut genug einschätzen. Also macht sich Thomas Kahrst in seinem Büro in einem Großgebäude der Deutschen Bahn – Frankfurter Westend, Blick auf die Messe – daran, eine verbindliche Arbeitsanweisung schreiben. Auf wenigen Seiten soll übersichtlich zusammengestellt sein, was wissen muss, wer Fremdfirmen mit Arbeiten in der Nähe von Oberleitungen beauftragt.
16. Juli 2012. Im S-Bahnhof Hannover-Nordstadt beginnen Matthias Wienecke, 21, und Maik Kron*, 45, gegen zehn Uhr den Arbeitstag, der ihr letzter sein wird. Es ist ihre vierte Woche auf der Baustelle; sie tragen auf die blauen Glasbausteine des S-Bahnhofs eine neue Schutzschicht auf. Die soll nicht nur den Regen abweisen, sondern auch dafür sorgen, dass das Glas nicht splittert, selbst wenn es bricht.
An diesem Tag müssen sie wieder auf das Bahnsteigdach, und wie die vergangenen Tage auch, stellen sie ihre Leiter am Bahnsteig an. So, wie es auch die Arbeiter der Reinigungsfirma gemacht haben, die zuvor oben die Glasbausteine gesäubert haben. Die Reiniger sind auf der anderen Seite aufgestiegen, an Gleis 1, und die Glasarbeiter Matthias Wienecke und Maik Kron steigen an Gleis 2 auf – ein Elektrotechnikexperte würde sofort sehen, dass an beiden Gleisen die Oberleitung gefährlich nah ist. Die beiden Arbeiter allerdings haben Ahnung von Glas, nicht von Strom. Zur Sicherheitseinweisung, das erzählt ein Mitarbeiter der Reinigungsfirma, kamen die Leute von Hoffmann-Glas obendrein zu spät. Ob es für sie später eine ausführliche eigene Einweisung gab, wie die Bahn den Ermittlern sagte? Weder die Firma noch die Bahn nimmt dazu Stellung.
Allerdings war die Sicherheitseinweisung offenbar ohnehin eher fragwürdig: Der Mitarbeiter der Reinigungsfirma sagt, der Mann von der Deutschen Bahn habe erklärt, zur Oberleitung gelte es einen »magischen Abstand von einem Meter« zu halten. Ein zu niedriger Wert, der auch in keiner gültigen Sicherheitsrichtlinie zu finden ist.
Wo eine solche Leiter zu stehen hat und wie nahe Arbeiter einer Oberleitung kommen dürfen, wenn die Bahn den Strom denn nicht abstellen will: Solche Dinge haben in der Gefährdungsbeurteilung zu stehen, die nicht nur laut dem zitierten DB-internen Vermerk zwingend ist, sondern vor allem laut Arbeitsschutzgesetz, Paragraf 6. Nur: Für die Baustelle am S-Bahnhof Hannover-Nordstadt wurde nie eine Gefährdungsbeurteilung erstellt. Weder von Hoffmann-Glas noch von der Deutschen Bahn – die als Auftraggeberin die gesetzliche Pflicht hat, die Gefährdungsbeurteilung zu prüfen, und sich zu vergewissern, dass die Arbeiter nicht in Gefahr geraten.
Auf Anfrage des Süddeutsche Zeitung Magazins erklärt die Deutsche Bahn, keine Fragen zu diesem Fall zu beantworten, ebenso die Firma Hoffmann-Glas.
Am 3. April 2012, also rund drei Monate bevor Matthias Wienecke und Maik Kron zum ersten Mal in Hannover-Nordstadt eine Leiter besteigen, hat Thomas Kahrst seine Arbeitsanweisung endlich fertig, nach eineinhalb Jahren. Es hat nicht nur deswegen so lange gedauert, weil Kahrst zur Gründlichkeit neigt – er besucht sogar eigens ein Unfallverhütungsseminar –, sondern vor allem, weil er bahnintern immer wieder gebremst wird. Über Monate hat er in Sitzungen, Rundmails und Telefonaten mit Kollegen zu kämpfen, die nicht hinnehmen wollen, dass Kahrst wirklich alle gesetzlichen Sicherheitsvorgaben in seine Arbeitsanweisung übernimmt. Auch solche, die zuvor eher umgangen wurden. So ist nun unter anderem festgehalten, dass elektrotechnische Laien wie Wienecke und Kron einen Mindestabstand von drei Metern zum Gefahrenbereich einhalten müssen. Sollte dies nicht möglich sein, müsse entweder der Strom abgeschaltet oder eine dauernde Aufsicht der Arbeiter durch Fachleute sichergestellt werden. Beides bedeutet: mehr Kosten für die Deutsche Bahn.
Später lässt sich rekonstruieren: Eine Windböe hat die Leiter nach links gerissen. Dort hing die Oberleitung.
Der S-Bahnhof Hannover-Nordstadt. An der mit dem Kreuz markierten Stelle stand die Leiter der Verunglückten - der Kreis zeigt den Ort, wo sie laut Deutscher Bahn hätte stehen müssen.
Kahrsts Gegner versuchen erst gar nicht, ihren Kampf gegen mehr – und gesetzlich vorgeschriebene – Sicherheit irgendwie zu bemänteln: Es seien »finanzielle Nachteile für unser Unternehmen zu erwarten«, weil solche Mindestabstände über die gewohnten Schutzabstände hinausgingen, ist in einer der vielen internen Mails zu lesen, die in Kahrsts E-Mail-Fach landen. Sein Vorschlag würde mehr als 300 Strom-Abschaltungen im Jahr nach sich ziehen, steht in einer anderen, und allein schon die Überwachung der Laienarbeiter würde pro Jahr zwei Millionen Euro kosten – Geld, das nicht eingeplant sei! An anderer Stelle rechnet jemand vor, dass man rund 135 000 Euro für »die neu zu erstellenden Sicherheitspläne« einrechnen müsse. Und eine hochrangige Führungskraft schreibt, die »Altvorderen« hätten doch durchgesetzt, dass auch Laien bis auf eineinhalb Meter an die Gefahrenzone herandürften!
In manchen Mails wird Thomas Kahrst gedroht, man werde Vorgesetzte informieren, man werde Schritte einleiten. Andere Mails, in denen man über sein Tun klagt, gehen nicht an ihn, sondern an seine Vorgesetzten.
Aber Kahrst weiß das Arbeitsschutzgesetz, Unfallverhütungsvorschriften, konzernweite Richtlinien und seinen direkten Chef hinter sich. Und in seiner Neigung, auch mal grundsätzlich zu werden, weist er per Mail einen Kollegen darauf hin, nicht nur er habe »das Grundgesetz und die übrigen Gesetze der BRD zu wahren«. Vor allem aber muss er miterleben, dass weiterhin Arbeiter von Fremdfirmen an Stromschlägen sterben, die womöglich hätten verhindert werden können:
Bahnhof Baunatal-Guntershausen, 10. Oktober 2011: ein Toter.
S-Bahnhof München-Westkreuz, 24. November 2011: ein Toter.
Am 17. April 2012 geht die korrigierte und von Kahrsts Chef fachlich geprüfte Arbeitsanweisung mit der Kennziffer UN01-03-07-28AAN01 und dem Titel: »Arbeiten in der Nähe von elektrischen Anlagen an Fremdfirmen beauftragen« an einige involvierte Abteilungen, zur Kenntnisnahme beziehungsweise Genehmigung. Danach soll das Dokument auch an alle in Frage kommenden Konzernbereiche geschickt werden. Rechts unten auf dem Deckblatt steht die Zeile »Gültig ab: 01.05.2012«. Das ist das Ziel. Es wird nicht eingehalten werden.
Matthias Wienecke und Maik Kron sehen den Sturm kommen. Alle sehen ihn kommen, die Wolken ballen sich eindrucksvoll über Hannover-Nordstadt an diesem Nachmittag – so eindrucksvoll, dass Eva-Maria Traun*, die mit ihrem kleinen Sohn in die Innenstadt will, davon noch schnell ein Foto mit ihrem Smartphone macht, bevor sie zum Bahnsteig hinabsteigen. Prompt verpassen sie die Bahn. Es wird lange dauern, bis die nächste kommt.
Gegen 14.40 Uhr rufen Wienecke und Kron ihren Vorarbeiter an und sagen, dass es anfängt zu regnen und sie gleich Schluss machen auf dem Dach. Sie packen ihr Werkzeug zusammen, Pinsel, Kübel und anderes, und bringen es nach unten. Über die lange Aluminiumleiter, die am Bahnsteigdach lehnt.
In einer Stellungnahme für die Staatsanwaltschaft erklärt die Deutsche Bahn, die Leiter hätte dort nicht aufgestellt werden dürfen, dies habe man den Arbeitern auch so mitgeteilt. Mündlich. Eine Behauptung, die nach dem Tod der beiden Männer schwer zu widerlegen ist. Es sei denn, es gibt Zeugen. Und die gibt es: Sowohl der Vorarbeiter von Hoffmann-Glas als auch der Vorarbeiter der Reinigungsfirma bestreiten, dass überhaupt darüber gesprochen worden sei, wo die Leiter hätte aufgestellt werden dürfen – geschweige denn, dass es ein Verbot gegeben habe oder, wie die Bahn behauptet, einen anderen »definierten und vor Ort festgelegten Aufstellort«.
Eva-Maria Traun sieht die beiden Männer, die ihr Arbeitszeug unter Dach schaffen, sie wird sich später erinnern, dass die Arbeiter beim Zusammenräumen scherzen; offenbar freuen sie sich auf den Feierabend. Auch sie stellt sich mit ihrem Sohn unter, es regnet immer stärker, und der Wind zieht durch den Bahnhof. Nebenbei lädt sie das Foto der Wolken über dem Bahnhof auf Instagram und twittert es um 14.53 Uhr mit der Bemerkung: »Hier wird’s nass in _#Hannover _#Rain @ Bahnhof Hannover-Nordstadt«.
Alexandra Prick*, Betriebsratssekretärin, wartet ein paar Meter weiter auf ihre Bahn. Auch sie hat sich vor dem einsetzenden Regen unters Dach zurückgezogen. Bei einem Windstoß muss sie einen Schritt nach hinten machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann hört sie den Knall.
Der Lagerarbeiter Mark Holderlein* sieht aus den Augenwinkeln einen gleißenden Lichtbogen, und ehe er sich fragen kann, was er da gesehen hat, hört auch er den Knall. Reflexartig dreht er sich weg und flüchtet ein paar Meter in die andere Richtung. Als er sich wieder umschaut, sieht er die zwei Menschen auf dem Bahnsteig, und sie brennen.
Später lässt sich rekonstruieren: Eine Windböe hat die Leiter nach links gerissen. Dort hing die Oberleitung.
Noch im April, nur ein paar Tage nachdem Thomas Kahrst seine Arbeitsanweisung in die Abstimmungsrunde gegeben hat, erfährt er, dass sein Projekt abrupt gestoppt wurde. Eine ranghohe Führungskraft hat auf das Deckblatt handschriftlich notiert: »Unternehmerische Bewertung muss unbedingt folgen!« Unternehmerische Bewertung bedeutet: Was kostet uns das?
Nur: Gesetzliche Sicherheitsvorschriften sind einzuhalten, und nicht erst auf etwaige Mehrkosten zu überprüfen. Und in internen Versammlungen richten Führungskräfte aus, der Bahnchef Rüdiger Grube bestehe darauf, dass es »in sicherheitsrelevanten Bereichen keine budgetgesteuerte Planung« geben dürfe.
Wie auch immer: Solange diese »unternehmerische Prüfung« nicht erfolgt ist, liegt die Arbeitsanweisung auf Eis.
Der ursprünglich angepeilte 1. Mai 2012 verstreicht. Ein paar Tage später bekommt Kahrst eine Rundmail: Sein Chef dankt allen, die an der Arbeitsanweisung mitwirkten, und erklärt, »da noch Einwendungen abzuklären« seien, werde diese erst später veröffentlicht.
Auf Kahrsts Schreibtisch liegt eine Analyse zu den »Grenzkosten zur Vermeidung eines statistischen Todesfalls«. Die Autoren zitieren einen Eisenbahn-Leitfaden aus den Neunzigerjahren, in dem dieser Wert nach einer Kosten-Nutzen-Analyse für das Unternehmen mit umgerechnet zwei bis 50 Millionen Euro angegeben wird: So viel Geld lohnt es sich in die Hand zu nehmen, wenn man damit – statistisch wahrscheinlich – ein Leben retten kann. Das war, bevor die Deutsche Bahn auf Rekordgewinn getrimmt wurde.
Thomas Kahrst zählt nun fünf Tote und acht Schwerverletzte allein zwischen 2008 und 2012.
Bei der Betriebsvollversammlung Mitte Juni 2012 versucht Kahrst, den Vorstand der DB Netz AG für seine Sache zu gewinnen. Er übergibt ihm unter anderem die fertige Arbeitsanweisung sowie einen Datenstick mit weiteren Dokumenten und einem Videoclip, auf dem ein Beinaheunfall bei Baumfällarbeiten an einem Gleis zu sehen ist: Fünf Arbeiter springen in letzter Sekunde zur Seite. Es folgt ein lauter Knall und ein riesiger Blitzbogen. Dann hört man die Männer erleichtert durchschnaufen.
Aber es wird Juni, es wird Juli, und Kahrsts Sicherheitsleitfaden bleibt in der Schublade.
Eva-Maria Traun zuckt zusammen, als sie den Knall hört. Erschrocken schaut sie sich um und sieht die umgekippte Leiter an der Oberleitung lehnen. Und sie sieht, dass sich auf der Leiter etwas abwärts bewegt, das sie später als eine Art Feuerball beschreiben wird. Eva-Maria Traun packt ihren Sohn, hält ihm die Augen zu und rennt los. Nach hinten, in Sicherheit. Als Nächstes hört sie einen Mann brüllen: »Weg da, nicht helfen, nicht anfassen!« Sie sieht, dass andere Augenzeugen sich den Verunglückten genähert haben. Aber solange die an der noch immer unter Strom stehenden Leiter liegen, ist jeder Hilfeversuch lebensgefährlich. Auch Eva-Maria Traun beginnt, »Weg, weg, weg!« zu schreien.
Der Anruf bei der Rettungsleitzentrale geht um 14.55 Uhr ein, vier Minuten später trifft der Rettungswagen ein, eine weitere Minute danach die erste Polizeistreife. Immer noch brennen die beiden Männer.
Um 15.08 Uhr schaltet jemand von der Bahn den Strom aus, die Oberleitung wird geerdet, die Strecke gesperrt. Jetzt erst darf der Notarzt zu Matthias Wienecke und Maik Kron. Der Form halber führt er ein EKG durch, um 15.21 Uhr stellt er den Tod beider Arbeiter fest. Im Obduktionsbericht wird später stehen, die Verletzungen seien »nicht mit Leben vereinbar«: Sauerstoffunterversorgung im Hirn durch Atemstillstand, Kammerflimmern, innere und äußere Verletzungen. Das Ausmaß der Verletzungen wird viele Seiten füllen, säuberlich belegt mit Fotos, die nie wieder aus dem Kopf bekommt, wer eine Sekunde zu lange hingesehen hat.
Um 18.42 Uhr wird die S-Bahnstrecke wieder freigegeben.
Am Abend jenes Tages klingelt es um 19 Uhr an der Haustür von Steffi Bolduan-Wienecke in Baasdorf bei Dessau. Ein kleines, altes Haus, 1780 erbaut, mit großem, gepflegtem Garten, um die Terrasse Palmenpflanzen, davor ein Strandkorb. Es ist ihr Elternhaus, und es ist der Ort, an dem ihr einziges Kind Matthias groß wurde. An diesem Montag hat Steffi Bolduan-Wienecke frei, sie hat viel im Garten gemacht, und eigentlich erwarten sie und ihr zweiter Ehemann keinen Besuch. Als sie öffnet, steht sie zwei Polizisten in Uniform und einer Frau gegenüber. »Es hat einen Unfall gegeben«, sagt einer der Polizisten. »Es tut mir leid, Ihr Sohn ist bei Gebäudereinigungsarbeiten ums Leben gekommen.«
»Ich will ihn sehen«, sagt sie. Die Polizisten schütteln den Kopf.
»Strom richtet Menschen fürchterlich zu«, sagt die Seelsorgerin.
Vor zwei Jahren starb ihr Sohn an einer Oberleitung: Steffi Bolduan-Wienecke.
Steffi Bolduan-Wienecke reagiert kaum. Ihr Mann bittet die Besucher herein, man setzt sich ins Wohnzimmer. Die Frau stellt sich als Seelsorgerin vor, sie fragt Steffi Bolduan-Wienecke, ob sie reden möchte. Aber die ist gedanklich noch nicht über die erste Schwelle gekommen: Wieso Gebäudereinigungsarbeiten? Matthias arbeitet doch nicht bei einem Putztrupp. In ihr keimt die Hoffnung, dass alles nur eine Verwechslung ist. Aber einer der Polizisten erklärt, man habe Matthias aufgrund seiner Ausweispapiere und seiner Taschen identifiziert.
Trotzdem. »Ich will ihn sehen«, sagt sie.
Die Polizisten schütteln den Kopf.
»Strom richtet Menschen fürchterlich zu«, sagt die Seelsorgerin.
»Ich will ihn sehen. Wann kann ich ihn sehen?«, fragt Steffi Bolduan-Wienecke.
»Das ist nicht gestattet«, sagt einer der Polizisten. Ihr Sohn müsse obduziert werden.
»Ich fahre nach Hannover«, sagt Steffi Bolduan-Wienecke, »ich will ihn sehen.«
Eine Zeitlang bleiben die drei Besucher noch, von denen keiner etwas sagen kann, das helfen würde. Bevor die Polizisten gehen, raten sie Bolduan-Wieneckes Ehemann, ihr die Autoschlüssel wegzunehmen. In ihrer Verfassung könne sie unmöglich fahren.
Am Morgen des 17. Juli 2012 bekommt Thomas Kahrst den täglichen Lagebericht, gemailt um 5.01 Uhr, von ihm geöffnet um 7.30 Uhr, bei Arbeitsbeginn. Die Abteilung Entstörungskoordination schreibt: »Zwei Mitarbeiter einer privaten Firma wurden bei Renovierungsarbeiten an einer Fassade auf dem Bahnsteig tödlich verletzt.« Kahrst notiert: 16.7.2012, Hannover-Nordstadt: zwei Tote, und er merkt, wie die Wut aufsteigt. Es hat sich eine Menge angestaut bei ihm, er hat im Unternehmen nicht nur Probleme wegen der gestoppten Arbeitsanweisung. Bei der Bahn gilt schnell als Querulant, wer widerspricht. Vor ein paar Jahren, auch damals gab es Streit um Sicherheitsfragen, wurde ihm sogar gekündigt: Sein Arbeitsplatz falle weg, hieß es. Die Bahn musste die Kündigung zurücknehmen, aber die Auseinandersetzung ließ auf allen Seiten Wunden zurück. Kahrst ist ein Beamter mit Grundsätzen, und einer davon – der Vorrang der Sicherheit – wurde jetzt das eine Mal zu oft verletzt.
Kahrst tippt eine Mail in seinen DienstLaptop, die Folgen haben wird: »Wir fragen uns: Hätte dieser Unfall durch rechtzeitige Veröffentlichung unserer seit Monaten höchst umstrittenen und immer wieder blockierten AA ggf. verhindert werden können?«
Auf den Verteiler setzt er alle, die mit seiner Arbeitsanweisung in den vergangenen Monaten zu tun hatten. Um 9.52 Uhr drückt er auf Senden.
Als Steffi Bolduan-Wienecke am Dienstag, dem 17. Juli 2012, die Augen öffnet, hat sie eine furchtbare Nacht hinter sich. Sie fährt gleich am Vormittag mit ihrem Mann nach Hannover. Immer wieder muss sie daran denken, dass sie es war, die Matthias die Lehrstelle bei Hoffmann-Glas besorgt hat. Wenn sie es nur nicht getan hätte.
Am frühen Nachmittag darf Steffi Bolduan-Wienecke ihren Sohn in der Rechtsmedizin besuchen, nun doch. Sie darf ihn nicht anfassen, aber ihm noch einmal ins Gesicht sehen. Er sieht nicht so furchtbar aus, wie sie befürchtet hat, seine Haut ist dunkel verfärbt, und um seinen Mund hat sich eine Art rosa Schaum gebildet. Das hält sie aus. Sie holt sich einen Stuhl und setzt sich neben ihn. Dann erzählt sie ihm, was passiert ist, auf der Baustelle und danach. Sie darf zwanzig Minuten bei ihm bleiben.
Am nächsten Tag wird Matthias obduziert. Seine Mutter musste während ihrer Ausbildung zur Zahnarzthelferin bei einer Obduktion zusehen, diese Prozedur hätte sie ihm gerne erspart. Aber es muss – von Amts wegen, sozusagen – festgestellt werden, ob er an natürlichem Herzversagen starb oder durch den Unfall, und ob er Drogen oder Alkohol genommen hatte. Das Ergebnis: keine Drogen, kein Alkohol, kein natürliches Herzversagen.
Die Reaktion auf Thomas Kahrsts E-Mail erfolgt mit Verspätung. Eine Woche später bittet ihn sein Disziplinarvorgesetzter – der im Urlaub war – in ein Besprechungszimmer. Dort warten bereits drei weitere Kollegen, allesamt Führungskräfte. Kahrst wird mitgeteilt, dass er unverzüglich von allen Aufgaben freigestellt sei. Sein E-Mail-Account werde gesperrt, sein Dienst-Laptop eingezogen. Begründung: Die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ihm sei nachhaltig gestört, weil er jene E-Mail vom 17. Juli auch an eine private T-Online-E-Mail-Adresse geschickt habe. Tatsächlich gehört die private E-Mail-Adresse nicht irgendjemandem, sondern einem festangestellten Kollegen, der mit der Arbeitsanweisung befasst war. Dieser Kollege, so erklärt es Kahrst, hätte allgemein darum gebeten, ihm dienstliche Mails auch an die private Mail-Adresse zu senden – wegen Heimarbeit. Aber spielt es eine Rolle?
Nach dem Gespräch begleiten ihn zwei Kollegen zu seinem Arbeitsplatz und bleiben an seiner Seite, bis Kahrst den Laptop heruntergefahren hat. Dann nehmen sie ihm das Gerät ab. Kahrst ist »bis auf Weiteres freigestellt«, er soll sich »zu Hause bereithalten« – so steht es im Schreiben seiner Vorgesetzten.
In dieser Zeit fährt Steffi Bolduan-Wienecke noch einmal nach Hannover. Sie will den Ort sehen, an dem Matthias starb. Als sie am S-Bahnhof oben steht, auf der Brücke, von der man hinuntersehen kann zu den Bahnsteigen, will sie zuerst umkehren. Dann reißt sie sich zusammen. An der Stelle, wo er starb, sieht sie immer noch die Spuren, die der Strom hinterlassen hat. Sie bemerkt, wie nah die Leiter an den Gleisen stand.
Nun nistet sich eine Idee in Steffi Bolduan-Wieneckes Kopf ein: dass jemand für den Tod ihres Sohnes verantwortlich sein muss. Sie nimmt sich einen Anwalt und beantragt Akteneinsicht in die Ermittlungen. So erfährt sie, dass die Bahn behauptet, die beiden Verunglückten seien im Grunde selbst schuld, weil sie das Verbot missachtet hätten, die Leiter direkt am Gleis aufzustellen. Sie erfährt aber auch, dass es für diese Behauptung keinerlei Beleg gibt, auch weil die Gefährdungsbeurteilung fehlt. Dass es andersherum aber sehr wohl Zeugen gibt, die bestreiten, es sei überhaupt über den Aufstellort gesprochen worden. Dass obendrein zwei Sicherheitskontrolleure der Bahn immer wieder vor Ort waren, ohne je zu beanstanden, dass die Leiter am Gleis aufgestellt war. Dass diese sogar Fotos davon machten, aber später erklärten, die Leiter habe nur ausnahmsweise dort gestanden – obwohl Arbeiter beider Firmen versichern, das Dach nie anders betreten zu haben. Und dass die drei Sicherheitsposten, die die ganze Zeit über in der Nähe der Arbeiter zu sein hatten, bei der Einweisung ebenfalls anwesend waren und also hätten wissen müssen, dass die Leitern nicht dort hätten stehen dürfen. Wenn das denn damals Thema war. Allerdings:
Offenbar waren die drei Sicherheitsposten allein für die Gefahr durch das »rollende Rad« zuständig – sie hatten eine Tröte, und wenn ein Zug nahte, warnten sie damit die Arbeiter. Trotzdem war ihnen natürlich nicht verboten, auch vor anderen Gefahren zu warnen.
»Wir hätten die Leiter schon da hingestellt, wo die Bahn das will«, sagt ein Mitarbeiter der Reinigungsfirma, »es hätte uns aber halt jemand sagen müssen.«
»Warum die Leiter auf Gleis 2 aufgestellt worden ist, ist nicht nachzuvollziehen.«
Der Bahnbeamte Thomas Kahrst kämpfte dafür, dass solche Unfälle weniger werden.
Mitte August 2012, gut drei Wochen nach dem Unfall in Hannover-Nordstadt, wird Thomas Kahrst mitgeteilt, er habe seinen Dienst wieder aufzunehmen. Allerdings wird er in ein anderes Gebäude versetzt, ohne Anschluss zu seiner Abteilung. Er hört von einem Kollegen, dass Anweisung erging, ihn aus wichtigen Mail-Verteilern zu nehmen. Sein Name auf dem Postablagefach seiner Abteilung wird per Hand durchgestrichen. Sein neues Büro ist zugleich ein Materiallager: zwei Schränke, gefüllt mit Büromaterial, daneben Papier für Drucker und Kopierer, ein Stuhl, ein leerer Schreibtisch. Kein Rechner, kein Telefon. Hier hat Kahrst nun seinen Dienst zu verrichten. Der ist übersichtlich: Ihm werden keine Aufgaben übertragen. Auch wird ihm per Dienstanweisung auferlegt, jegliche schriftliche Kommunikation vorab genehmigen zu lassen, ebenso telefonische Gespräche mit der Außenwelt. Dezidiert heißt es, »alle Erklärungen und Kommentierungen zu Eisenbahnbetriebsunfällen und betrieblichen Unregelmäßigkeiten sind durch Ihren Vorgesetzten genehmigen zu lassen«. Kahrst unterschreibt die Dienstanweisung nicht.
Nach zehn Tagen in Isolation erhält Kahrst wieder Computer, Telefonanschluss und auch Arbeitsaufträge – wenn auch meistens nur als Zuarbeiter: eine anspruchslose, ermüdende Tätigkeit voller Daten und simpler Tabellen. Nicht nur deswegen fühlt er sich ausgegrenzt: Nach dem Umzug einer anderen Abteilung arbeitet er ein gutes halbes Jahr allein in einem Stockwerk vor sich hin. Kahrst beschwert sich sogar beim DB-Chef Rüdiger Grube über seine Lage, unter anderem schildert er das Sicherheitsproblem und die Umstände des Unfalls von Hannover-Nordstadt. Grube antwortet nicht. Dafür meldet sich eine Ombudsfrau und rät ihm, sich ärztliche Betreuung zu suchen.
Thomas Kahrst ruft bei der Polizei an: Er habe Wichtiges zu dem Stromunglück in Hannover mitzuteilen. Ein Polizist hört sich an, was er zu sagen hat, und lädt ihn vor. Am Tag nachdem Kahrst dafür seinen Reiseantrag einreicht, melden sich zwei Führungskräfte der Bahn bei der Polizei. Einer erklärt laut Polizeivermerk, Kahrst sei ein »schwieriger Kollege« und ein »unzufriedener Beamter«. Der andere behauptet, Kahrst sei als Zeuge eher ungeeignet, rein fachlich, er sei ja nur »einfacher Sachbearbeiter«. Außerdem sei sein Verhalten derart unangebracht, dass man versucht habe, ihm »über den psychiatrischen Dienst eine Dienstunfähigkeit zu bescheinigen«.
Kahrsts Reiseantrag geht erst vier Tage der geplanten Anhörung zurück zu ihm, das »genehmigt« ist dreifach durchgestrichen, daneben hat jemand notiert: »zur Kenntnis genommen«. Auf Anfrage des Süddeutsche Zeitung Magazins erklärt ein Sprecher der Deutschen Bahn, man werde auch zu diesen Themen keine Fragen beantworten.
Am 27. Juni 2013, fast genau ein Jahr nachdem Matthias Wienecke und Maik Kron an der S-Bahnstation Hannover-Nordstadt starben, stellt die Staatsanwaltschaft Hannover ihre Ermittlungen ein. Im Kern der Argumentation steht die Bemerkung, dass das Aufstellen der Leiter auf Gleis 1 »unstreitig erlaubt gewesen sein dürfte«. Tatsächlich war dies nicht der Fall, erst recht nicht »unstreitig«. Die Staatsanwältin nimmt keinen Bezug darauf, dass nicht einmal eine Gefährdungsbeurteilung vorlag, sie geht nicht darauf ein, dass die Arbeiter womöglich nicht korrekt unterwiesen wurden, und sie schlussfolgert: »Warum die Leiter auf Gleis 2 aufgestellt worden ist, ist nicht nachzuvollziehen.«
Weil es ihnen nie verboten wurde?
An diesem Tag geht Steffi Bolduan-Wienecke, wie an jedem Tag, an das Grab ihres Sohnes in der Nähe von Dessau. Sie verspricht ihm, dass sie dagegen vorgehen wird. Steffi Bolduan-Wienecke recherchiert, sie wird zur Expertin im Arbeitsrecht, ruft Zeugen an, sucht nach ähnlichen Unfällen im Internet. Die Leiterin eines »Trauercafés«, das sie irgendwann besucht, meint bei ihr »erschwerte Trauer« zu erkennen, aber das prallt an ihr ab. Als ein Arzt sagt, sie solle zur Kur fahren, zuckt sie mit den Schultern. Was soll sie auf Kur? Sie will zu Hause bleiben und tun, was getan werden muss. Sie lässt ihren Anwalt eine Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens schreiben. Nebenher arbeitet sie, gräbt den Garten um. In ihren Alpträumen sieht sie Matthias vor sich, und sein Gesicht ist verkohlt.
Am 20. November 2013 wird der Unfall vom S-Bahnhof Hannover-Nordstadt juristisch abgeschlossen: Die Generalstaatsanwaltschaft Celle weist Steffi Bolduan-Wieneckes Beschwerde ab. Es sei »nicht auszuschließen«, dass Matthias Wienecke und Maik Kron »ihnen bekannte Sicherheitsvorgaben nicht beachtet haben«.
Das Versagen der Sicherheitsbestimmungen der Deutschen Bahn und des Arbeitsgebers – etliche Verstöße gegen Arbeitsschutzgesetz, Unfallverhütungsvorschriften und interne Regelungen – scheinen für die Justiz nicht von Belang. In diesem Fall zumindest. 2010 dagegen verurteilte das Landgericht Passau einen Bauunternehmer in einem ähnlichen Fall wegen fahrlässiger Tötung. Ein Sprecher des Gerichts erläuterte damals, das Urteil beruhe auf einer Pflichtverletzung: Es sei keine »ordnungsgemäße Gefährdungsanalyse« durchgeführt worden. Als Matthias Wienecke und Maik Kron starben, gab es gar keine Gefährdungsanalyse.
Weder die Staatsanwaltschaft Hannover noch die Generalstaatsanwaltschaft Celle beantworten dazu die Fragen des Süddeutsche Zeitung Magazins.
Während dieser Recherche meldet sich ein weiterer Sicherheitsingenieur der Deutschen Bahn, es gehe um Menschenleben, sagt er. Ein Treffen wird arrangiert. Die Geschichte klingt ähnlich: Er habe vehement auf Sicherheit gedrängt, etliche Male, und sei dafür aus dem Betrieb gemobbt worden. Am Ende will der Mann seine Geschichte doch nicht publik machen. Er will keine öffentliche Auseinandersetzung mit der Deutschen Bahn riskieren.
Auch Thomas Kahrst fürchtet diesen Konflikt, aber er, der weiter als Zuträger, Auswerter, Datenzusammenkehrer seinen Dienst tun muss, will nicht klein beigeben.
In jenen Tagen nach dem Tod der Arbeiter im Juli 2012, in denen Thomas Kahrst aus seiner Abteilung entfernt wird, holt jemand die von ihm verfasste Arbeitsanweisung wieder aus der Schublade. Zwei Tage nach seiner Freistellung unterschreiben Kahrsts Vorgesetze die Weisung, sie tritt – nahezu ohne Änderungen – am 1. August 2012 in Kraft.
Auch auf die Frage, warum die Arbeitsanweisung nun doch umgesetzt wird, gibt die Deutsche Bahn keine Antwort.
*Name von der Redaktion geändert
(Fotos: Lucas Kromm, Ramona Haindl)
Foto: Fritz Beck