»Über ein Internet-Dating-Portal habe ich, 76, eine Frau kennengelernt, die sich als 76 Jahre alt vorstellte. Wir haben uns zweimal gesehen und gut verstanden. Nun hat sie gestanden, dass sie sich um drei Jahre jünger gemacht hat. Mich stört das, weil ich mir nach dem frühen Tod meiner Frau eine jüngere Partnerin gewünscht hätte und es sich um eine Lüge handelt. Wie soll ich mich verhalten?« Hans M., München
Hier scheinen sich verschiedene Fragen zu überlagern. Die erste Frage ist, ob die Dame und Sie einander sympathisch finden und eine Anziehung verspüren. Denn das ist meines Erachtens die wichtigste Frage dafür, ob man die Bekanntschaft vertiefen will. Die zweite Frage ist, ob es etwas ausmacht, dass die Dame drei Jahre älter ist. Die Abweichung des biologischen und geistigen Alters gegenüber dem numerischen Alter ist individuell so unterschiedlich – und die Dame ist, wenn Sie das wahre Alter nicht bemerkt haben, offensichtlich biologisch und mental jünger –, dass ich es für unsinnig halte, sich am numerischen Alter festzuklammern. Noch dazu, wenn die Abweichung weniger als vier Prozent beträgt. Und obwohl man Ihren Wunsch nach einer jüngeren Partnerin nach dem Verlust Ihrer Frau verstehen kann, halte ich ihn für zumindest ein bisschen egoistisch der neuen Partnerin gegenüber.
Die dritte Frage lautet, ob die Lüge relevant ist. Wenn Sie auf diesem Gebiet sehr streng sind, ist das natürlich ein Argument, das gegen eine weitere Annäherung spricht. Allerdings erschiene mir, obwohl tendenziell auch eher streng auf diesem Gebiet, die Lüge hier nicht so schlimm. Man kann das charmant begründen damit, dass es ein Gewohnheitsrecht der Frauen gibt, über ihr Alter zu täuschen. Dieses Gewohnheitsrecht findet eine moralische Begründung darin, dass das Alter bei den Frauen traditionell stärker beachtet und ein höheres Alter negativer bewertet wird als bei Männern, was eine geschlechtsbezogene Ungerechtigkeit darstellt, gegen die sich Frauen wehren dürfen. Oder man erkennt an, dass heute jeder jünger sein will und es deshalb sozial üblich ist, sich jünger zu machen. Man empfindet es nicht als vorwerfbare Lüge, sich die Haare zu färben, und das hier ist so etwas wie Geburtsdatum-Färben.
Literatur:
Die klassische Definition der Lüge findet man bei Augustinus:
»Die Lüge ist offensichtlich eine unwahre mit dem Willen zur Täuschung vorgebrachte Aussage.« (»Enuntiationem falsam cum voluntate ad fallendum prolatam manifestum est esse mendacium«, Augustinus, Aurelius, De mendacio, 5)
oder:
»Die Lüge ist eine unrichtige Zeichenkundgabe mit der Absicht des Täuschens.« (»Mendacium es quippe falsa significatio cum voluntate fallendi«, Augustinus, Aurelius, Contra mendacium, 26)
Aurelius Augustinus, Die Lüge und Gegen die Lüge, Übertragen und erläutert von Dr. Paul Keseling, Augustinus-Verlag, Würzburg, 1953
Gute Ausführungen dazu bei Schockenhoff:
Eberhard Schockenhoff, Zur Lüge verdammt? Politik, Justiz, Kunst, Medien, Medizin, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, 2. Auflage 2005, S. 43ff.
Sehr gute Ausführungen zum Recht zum Schutz der Privatsphäre zu lügen finden sich bei:
Simone Dietz, Die Kunst des Lügens, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2003
Ein insgesamt sehr empfehlenswertes Buch zum Thema Lüge – Dietz bezieht sich dabei auch auf: Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, Neuausgabe im Meiner Verlag 2006
Lesenswert zur Lüge:
Volker Sommer, Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, dtv, München 1994
Maria Bettetini, Eine kleine Geschichte der Lüge, Wagenbach Verlag, Berlin 2003
Rochus Leonhardt, Martin Rösel (Hrsg.), Dürfen wir lügen? Beiträge zu einem aktuellen Thema, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2002
Mathias Mayer (Hrsg.), Kulturen der Lüge, Böhlau Verlag, Köln 2003
Georg Geismann, Hariolf Oberer (Hrsg.), Kant und das Recht der Lüge, Verlag Königshausen + Neumann, Würzburg 1986
Immanuel Kant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, Akademie Ausgabe Band VIII, S. 423-430 Online abrufbar unter: http://www.korpora.org/Kant/aa08/423.htm...
Otto Lipmann, Paul Plaut (Hrsg.), Die Lüge in psychologischer, philosophischer, juristischer, pädagogischer, historischer, soziologischer, sprach- und literaturwissenschaftlicher und entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung, Verlag Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1927
André Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 3. Auflage 2010, darin das Kapitel 16: Die Aufrichtigkeit, S. 229ff
Sowie:
Rainer Erlinger, Moral. Wie man richtig gut lebt, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, darin das Kapitel: Von neuen Frisuren, Präsidenten und Praktikantinnen. Über die Lüge, S. 32-52
Mit stärkerem wissenschaftlichen Bezug die Vorlesung:
„Wer einmal lügt... Über Lüge und Wahrheit“ in: Rainer Erlinger, Nachdenken über Moral. Gewissensfragen auf den Grund gegangen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, S. 13-46
Illustration: Serge Bloch