»Schönreden« ist das passende Stichwort, vor allem für Ihre Frage. Es geht nämlich weniger um »Zugeben« oder »Ermutigung«, sondern schlicht um Lügen; ein großes Thema in der Moralphilosophie. Immanuel Kant sah in der Lüge die »größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst« und forderte demnach sogar in Notsituationen Wahrhaftigkeit, mag »daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen«. Diese Auffassung teilten schon zu Kants Zeiten bei weitem nicht alle und inzwischen gibt es Forschungen, welche in der Lüge ein notwendiges Instrument des sozialen Zusammenlebens, gar einen Motor der Evolution erblicken. Kants kategorisches Lügenverbot steht in der Tradition des Kirchenlehrers Augustinus, der im vierten Jahrhundert ebenso kategorisch jede Lüge zur Sünde erklärte. Mit seinen beiden Büchern Die Lüge und Gegen die Lüge brachte er die bis dahin offene Diskussion über ein Jahrtausend lang fast zum Erliegen und beeinflusst sie noch heute. Ob man seiner Linie nun folgen will oder nicht, bei ihm findet sich die Erklärung, warum Sie hier besser ehrlich sein sollten: »Wenn nämlich einer mit Hilfe der Lüge einen Mitmenschen zur Annahme der Wahrheit tauglich machen will, versperrt er ihm den Zugang zur Wahrheit.« Genau das ist hier der Fall. Angenommen, der kurze Haarschnitt sieht bei Ihrer Freundin wirklich unvorteilhaft aus, so wird sie das nie erfahren, wenn alle wahrheitswidrig stets das Gegenteil betonen. Deshalb brauchen Sie ihr nicht ins Gesicht zu sagen, wie grauenvoll sie mit kurzen Haaren und damit für die nächsten Jahre aussieht (ohnehin bedenklich bei einer Geschmacksfrage), sondern dass Ihnen die langen besser gefallen haben. Haare wachsen wieder und eine Frisur kann man ändern. Die Gelegenheit dazu bekommt die Kurzgeschorene aber nur, wenn man aufrichtig zu ihr ist, worauf sie bei Freunden ein Anrecht hat. Das und nicht die bequeme Lüge bedeutet Loyalität.
Die Gewissensfrage
»Eine Freundin, die nicht gerade übermäßig mit Selbstbewusstsein ausgerüstet ist, hat sich nach intensiven Überlegungen und Recherchen in diversen Frauenmagazinen dazu durchgerungen, sich ihre langen Haare abschneiden zu lassen. Mit zweifelhaftem Ergebnis! Nun stellt sich mir die Frage, ob ich ihr gegenüber ehrlich zugeben soll, dass mir die neue Frisur nicht gefällt, oder ob ich mich als ehrlicher Freund zu Loyalität und Ermutigung verpflichtet sehen und das Ergebnis somit schönreden sollte.« ALEXANDER S., HANNOVER