Auch auf die Gefahr hin, die nächsten Wochen undercover leben zu müssen: Mir war schon immer rätselhaft, wie sich Glücksgefühle verbreiten können bis hin zum delirösen Freudentaumel, nur weil ein Sportler auf dem Treppchen steht, der zufällig den gleichen Pass hat wie man selbst.
Vielleicht hat Robert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften – aus dem man nicht oft genug zitieren kann – den Ursprung dieses Gefühls auf den Punkt gebracht: »Nun sind Kinder Aufschneider, lieben das Spiel Räuber und Gendarm und sind jederzeit bereit, die Familie Y aus der Großen X-gasse, wenn sie ihr zufällig angehören, für die größte Familie der Welt zu halten. Sie sind also leicht für den Patriotismus zu gewinnen.«
Haben also Wettkämpfe zwischen Nationen überhaupt einen Sinn? Ja, meinte der Verhaltensforscher Konrad Lorenz; Sport wirke segensreich, weil er »wahrhaft begeisterten Wettstreit zwischen überindividuellen Gemeinschaften« ermögliche. Er öffne, so Lorenz, »nicht nur ein ausgezeichnetes Ventil für gestaute Aggression in der Form ihrer gröberen, mehr individuellen und egoistischen Verhaltensweisen, sondern gestattet ein volles Ausleben auch ihrer höher differenzierten kollektiven Sonderform.«
Was bedeutet das für Ihre Gefühle? Wäre es nicht doch besser, wenn Sie sich, wie Sie erwägen, an objektiven Kriterien orientierten? Ich finde, nein. Es handelt sich auch bei den Kämpfen der Bälle, Wagen und Gesänge nach wie vor um ein Spiel, an dem man irrationale Freude haben darf. Mir gefällt hier der Gedanke »Ubi bene, ibi patria«, wo es mir gut geht, ist mein Vaterland. Solange es nicht in Herabsetzung anderer oder gar Gewalt ausartet, scheint mir gleich, wo Ihr Herz sich zu Hause fühlt: Sei es bei der Mannschaft mit der besten Balltechnik, den buntesten Trikots oder eben der aus dem eigenen Land.
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