Die Gewissensfrage

»Neulich bekam ich zwei Freikarten für eine Kabarettaufführung geschenkt. Die Veranstaltung in einer ungeheizten Halle war extrem schwach besucht und die Kabarettisten entpuppten sich als ziemlich schlecht: Ihr Programm war langatmig und fade. Als ich nach zwei Stunden auf die Uhr schaute, waren erst 25 Minuten vergangen. Wir verließen die Veranstaltung in der Pause – was die Künstler wegen der geringen Besucherzahl bestimmt bemerkt haben. Nun will ich niemanden beleidigen, aber ich möchte meine freien Freitagabende auch nicht verschwenden. Deshalb die Frage: Darf man solche Aufführungen vorzeitig verlassen? Oder kränkt das den Künstler zu sehr?« MAXIMILIAN T., Hannover

In einer der Schlüsselszenen seines Meisterwerks Sein oder Nichtsein lässt Ernst Lubitsch einen jungen Fliegerleutnant immer gerade dann aufstehen und den Zuschauerraum verlassen, wenn der Schauspieler Joseph Tura seinen Monolog als Hamlet beginnt. Tura verstört das mit jeder Vorstellung stärker, weil er es auf seine, im Film wunderbar überpathetisch dargestellte Schauspielerei bezieht. Dabei hat der junge Flieger in Wirklichkeit eine Affäre mit Turas Frau und die beiden nutzen den Monolog des Mannes für ein ungestörtes Schäferstündchen in der Garderobe.

Das erzähle ich nicht nur, um Ihnen einen meiner Lieblingsfilme ans Herz zu legen, sondern um zu zeigen: Ja, es kann Künstler kränken, wenn Sie während der Vorstellung gehen. Deshalb bleibt nur noch die Frage, ob die Kabarettisten eine derartige Kränkung hinnehmen müssten. Eine Frage, die ich bejahe. Zum einen haben die Witzezerreißer offenbar gegen das eherne Gebot der Bühne verstoßen: Du sollst nicht langweilen! Da dürften Sie sogar Buh rufen, also direkt Missbilligung ausdrücken; und das bezwecken Sie mit Ihrer Flucht nicht einmal. Sie brechen nicht während der laufenden Vorstellung auf und werfen die Türe laut hinter sich zu. Im Gegenteil, Sie wählen die dezentest mögliche Form des Abgangs, kommen schlicht nicht wieder. Das Betreten einer Aufführung verpflichtet zu einem gewissen Respekt dem Künstler gegenüber, nicht aber dazu, komme, was wolle, bis zum Schluss auszuharren.

Gilt das immer? Natürlich nicht. Anders läge es etwa bei einem Blockflötenkonzert Ihrer vierjährigen Tochter. Falls hier die von der Natur eingerichtete rosa Klangbrille versagt und selbst Vaterstolz die Ergebnisse kindlicher Musikbegeisterung nicht mehr in erträgliche Töne zu verwandeln vermag, hieße es dennoch: Ohren zu und durch.

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Illustration: Jens Bonnke