Lassen wir das Strafrecht einmal außen vor; fragen Sie Ihre Kollegen, ob sie auch jeden Monat 70 Euro aus der Tasche des PremiereVorstandes holen würden. Bestimmt nicht, also woher kommt diese Unterscheidung?
Vielleicht aus der Unmittelbarkeit: Stiehlt ein Taschendieb ein Portemonnaie, hat sein Opfer eine leere Tasche. Beim Kaufhausdiebstahl fehlt die Ware im Regal und bei der Inventur, aber man sieht keinem Bestohlenen persönlich ins Antlitz. Noch anonymer wird es bei Versicherungsbetrug oder Steuerdelikten. Beim Schwarzfahren schließlich gibt es nicht einmal mehr einen Geldabfluss, der Schaden verliert die Materialität. Tatsächlich spiegelt sich genau diese Abstufung im Verhalten wider, wie eine jüngst veröffentlichte Umfrage zeigt: Während etwa ein Viertel der Befragten schon einmal schwarzgefahren ist, haben nur zehn Prozent Steuern hinterzogen und vier Prozent im Kaufhaus gestohlen (Taschendiebstahl lehnen hoffentlich fast alle ab). Dies passt zu der Theorie, dass sich unsere Moral für das Leben in kleinen Stammesverbänden entwickelt hat. Dem direkten Gegenüber zu schaden empfinden wir intuitiv als schlecht, je abstrakter die Situationen, desto weniger hilft das Gefühl.
Hier geht es noch einen Schritt weiter. Wenn es wirklich stimmt, dass Ihre Kollegen nicht gegen Bezahlung schauen würden, entgeht dem Sender tatsächlich auch kein Entgelt. Das Falsche daran erkennen wir erst, wenn wir die Vernunft einsetzen und das Prinzip der Verallgemeinerung anwenden: Ihre Kollegen handeln als »moral free rider – moralische Trittbrettfahrer«. Ihr Verhalten ist nur möglich, weil andere sich an die Regeln halten und zahlen. Wenn alle schwarzsähen, könnte kein Bezahlsender existieren, und es gäbe sein Programm nicht. Deshalb: Nur weil das moralische Gefühl auf die Entfernung schwächelt, wird falsches Handeln nicht richtig.
Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.
Illustration: Jens Bonnke