Lassen wir einmal die Tatsache beiseite, dass Sie den Ertappten durch eine Lüge decken, falls Sie behaupten, er sei Ihr Mitfahrer. Sie haben ihn nun einmal nicht mitgenommen, wozu Sie die Karte berechtigt, Sie kannten ihn bis zu diesem Moment nicht einmal. Der Kontrolleur kann das nicht widerlegen, unwahr bleibt es trotzdem.
Vielleicht meinen Sie, das lasse sich auf höherer Ebene rechtfertigen durch die Unterscheidung von Recht und Billigkeit. Denn obwohl Schwarzfahrer rechtswidrig auf Kosten der Allgemeinheit handeln, könnte ihre Bestrafung im Einzelfall unbillig sein: Wenn die Umstände – wie bei unwissenden Touristen – die strenge Anwendung des Gesetzes übertrieben erscheinen lassen. »Sittlich gut ist aber, den Wortlaut der Gesetze außer Acht zu lassen und dem zu folgen, was die innere Gerechtigkeit und die gemeinsame Nützlichkeit fordern«, schrieb Thomas von Aquin zur Tugend der Billigkeit, wollte sie aber auf Ausnahmen begrenzt wissen. Deshalb müssten Sie jeweils nach den konkreten Umständen entscheiden, ob die höhere Gerechtigkeit ein Eingreifen erfordert. Davon berichten Sie jedoch nicht. Man kann nun versuchen, in der Aktion sozialromantisch ein Aufbegehren gegen die Obrigkeit (in Form der städtischen Bahnen?) zu erblicken. Doch im Endeffekt scheint sie mir etwas anderem näher zu stehen: der Gnade. Sie nutzen an dieser Stelle die zufällig eröffnete Möglichkeit, einem Herrscher gleich den überführten Delinquenten vor Strafe zu bewahren. Nach den Charakteristika der Gnade: außerhalb des Rechts und willkürlich. Diese Willkürlichkeit ist es vor allem, die mich an Ihrem Vorhaben stört – abgesehen von der Falschaussage. Außerdem erlauben Sie mir bitte eine Frage: Sind Sie sich sicher, dass es nicht vor allem das Gefühl der Macht und die Möglichkeit, ohne eigene Kosten gut dazu- stehen, sind, die Sie locken?
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Dr. Dr. Rainer Erlinger ist im Wintersemester Gastprofessor in Augsburg. Hier finden Sie weitere Informationen zu seinen Veranstaltungen:
Illustration: Jens Bonnke