Die Gewissensfrage

"An meinem Geburtstag klingelt jedes Jahr pausenlos das Telefon. Früher wurden Briefe oder Karten zum Geburtstag verschickt, heute rufen alle an: Verwandte, Freunde und Bekannte, aus allen Lebensphasen, oft Menschen, mit denen ich fast ein Jahr nicht mehr gesprochen habe. Mit jedem verbindet mich eine Freundschaft, mit jedem müsste ich mindestens eine halbe Stunde über Alt und Neu reden. Deshalb nehme ich oft nicht ab. Ist es moralisch vertretbar, liebe Anrufer so zu ignorieren?" Monika W., Leipzig

Was könnte Sie dazu verpflichten, ans Telefon zu gehen? Oder anders gefragt: Was passiert, wenn Sie den Hörer nicht abnehmen? Zum einen wird Sie eine Reihe von Glück- und Segenswünschen nicht erreichen, zum anderen entfällt die Möglichkeit zum Austausch mit lieben und geschätzten Menschen.

Mit den Glückwünschen ist es so eine Sache: Streng genommen muss man sie wohl dem Aberglauben zuordnen, aber auch das scheint fraglich. Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens etwa zählt sie nur bedingt dazu und begründet es damit, dass »ein ernster Glaube an die magische Wirkung des ausgesprochenen freundlichen Wunsches« meist nicht mehr vorhanden sei, »wenigstens heute«. Derart mit Informationen aus einschlägiger Quelle gewappnet, wage ich zu behaupten, dass Ihr Leben ohne die Glückwünsche nicht schlechter verlaufen wird und Ihnen von dieser Seite kein Ungemach droht.

Schwieriger wird es bei den unterbundenen, ja zurückgewiesenen Kontakten. Man könnte etwas spitz auf die restlichen 364 Tage verweisen, an denen mehr Zeit gewesen wäre, der Drang zueinander aber wohl nicht so groß. Andererseits vertrete ich die Auffassung, man sollte jede Gelegenheit nutzen, anderen zu zeigen, dass man an sie denkt, warum also nicht den Geburtstag? Zumal er sich dafür sogar anbietet. Doch hier scheint mir die Lösung relativ einfach: Es ist nun einmal Ihr Geburtstag, und den dürfen Sie so verbringen, wie Sie mögen. Wenn es Ihnen Spaß macht, den ganzen Tag Erinnerungen aufzufrischen und sich fremde Lebensgeschichten anzuhören, tun Sie das. Wenn nicht, lassen Sie es. Es gibt so segensreiche Erfindungen wie Anrufbeantworter, Brief, E-Mail und SMS; die erlauben es jedem, jederzeit seine Glückwünsche abzugeben, und ermöglichen es dem Geburtstagskind, sich darüber zu freuen und dann zu reagieren, wenn es will. Gleich oder später. Echte Freunde sollten das verstehen.

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Weiterführende Literatur:
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (10 Bände). Hrsg. v. Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller, Berlin / New York, Walter de Gruyter, 1987.
Unveränderter photomechanischer Nachdruck der Originalausgabe (Handwörterbuch zur deutschen Volkskunde, herausgegeben vom Verband deutscher Vereine zur deutschen Volkskunde, Abteilung I, Aberglaube) erschienen 1927 bis 1942 bei Walter de Gruyter & Co, vormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trüber - Veit & Comp., Berlin und Leipzig

Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Hultschiner Str. 8, 81677 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.

Marc Herold (Illustration)