»Zu seinem 75. Geburtstag gab mein Vater ein feierliches Abendessen mit 50 Gästen. Auch wenn keine Kleiderordnung vorgegeben war, trugen alle festliche Kleidung. Nur mein 35-jähriger Bruder erschien unrasiert und in Schlabberhose. Ich sagte ihm, er hätte sich besser anziehen sollen – er meinte, ich sei spießig, Kleidung sei oberflächlich und unwichtig. Erwarte ich zu Recht, dass er sich dem Anlass entsprechend kleidet? Oder muss ich tolerieren, dass er Äußerlichkeiten für unwichtig hält?« Willibald T., Koblenz
Auf Ihre Frage kann ich nur mit »Ja« antworten: Ja, Sie können zu Recht erwarten, dass er sich dem Anlass entsprechend kleidet. Und ja, Sie müssen tolerieren, dass er Äußerlichkeiten für unwichtig hält. Und das ist kein Widerspruch.
Auch ich bin kein großer Freund von Äußerlichkeiten, sie sind, wie der Name schon sagt, äußerlich und damit eigentlich nur Schein. Handelt man, um das Äußere zu wahren, gegen die eigene innere Überzeugung, kann das sogar in Richtung Unaufrichtigkeit gehen. Und bei Kleidung bekommt es sehr schnell etwas von einer Maskerade. Insofern kann ich die Auffassung Ihres Bruders zumindest zum Teil nachvollziehen.
Dennoch stimme ich Ihnen zu: Sie können zu Recht erwarten, dass Ihr Bruder sich dem Anlass entsprechend kleidet. Sich zu einem festlichen Geburtstag festlich zu geben, verlangt die Etikette.
Nur was hat Etikette mit Moral zu tun? Im Grunde wenig. Allerdings gibt es einen Berührungspunkt: die Achtung vor dem Gegenüber. Da die Einhaltung von Benimmregeln häufig Aufwand bedeutet, kann in ihrer Verletzung zugleich eine Verletzung des Gegenübers liegen, weil er ihr eine Geringschätzung entnehmen kann: Er ist diesen Aufwand nicht wert. Damit aber bewegt man sich auf moralischem Terrain.
Und so würde ich es hier sehen: Auch wenn Ihr Bruder nicht gern Anzug trägt, scheint mir dieser vergleichsweise geringe Aufwand geboten. Aus Achtung vor Ihrem Vater, der offenbar selbst größeren Aufwand für seinen besonderen Tag betrieben und dafür einen exklusiven Rahmen gewählt hat. Und für das Ausfechten von Kleidungskämpfen hat die Natur die Pubertät erfunden, die irgendwann einmal zu Ende ist.
Allerdings, und damit kommen wir zum Schluss, müssen Sie Ihrem Bruder gar nicht zustimmen, um seinen Schlabberlook zu tolerieren. Im Gegenteil, Toleranz setzt Ablehnung sogar voraus. Etwas, was Sie für richtig halten, können Sie nicht tolerieren, sondern nur teilen. Und da mir das Verhalten Ihres Bruders zwar falsch, aber nicht intolerabel erscheint, bin ich der Meinung, dass Sie es zwar kritisieren können, aber dennoch tolerieren sollten.
Illustration: Marc Herold