»Bei einer Wanderung machte ich Bilder von meiner Freundin unterm Gipfelkreuz. Sie versteckte dabei die Zigarette, die sie gerade rauchte, da sie nicht wollte, dass sie rauchend auf den Bildern zu sehen ist. Ich machte dennoch ein Bild von ihr, ein sehr gelungenes, wie ich meine. Am nächsten Morgen fehlte genau dieses Bild. Nun bin ich sauer, weil sie an meine Kamera gegangen ist und eines meiner Bilder unwiederbringlich gelöscht hat. Zumal dieses Bild vielleicht noch mein Mann gesehen hätte, sonst niemand. Sie hielt dagegen, es gebe doch ein Recht auf das eigene Bild. Der Knacks in unserer Freundschaft hält bis heute an. Was wiegt schwerer? Und wer sollte den anderen um Entschuldigung bitten?« Rita B., Freiburg
Nachdem ich Ihre Frage gelesen hatte, habe ich als Erstes meinen Posteingang durchforstet: ob sich nicht ein genau umgekehrt formulierter Brief Ihrer Freundin darin findet. Denn sie könnte sich genauso empören wie Sie. Ja, ohne vorgreifen zu wollen, sogar ein bisschen mehr. Man könnte Sie beide – dort unterm Gipfelkreuz – nebeneinander stellen und ein anderes Bild machen: Beide stemmen ihre Hände in die Hüften, wenden den Kopf ein wenig von der anderen ab, recken das Kinn nach oben, schieben die Unterlippe vor und rufen unisono: »Das ist der Gipfel!«
Das ist es nicht. Zwar stehen Sie auf einem beachtlichen Haufen von Abraum Ihrer Freundschaft, aber zumindest im zwischenmenschlichen Umgang haben Sie keine echten Höhen erklommen. Ich muss gestehen, ich verstehe Ihr Verhalten nicht. Ihre Freundin bittet Sie, kein Bild von ihr mit Zigarette zu machen, und versucht auch noch, es zu verhindern, indem Sie die Zigarette vor der Kamera versteckt. Was an diesem Wunsch haben Sie nicht verstanden? Oder worauf gründen Sie Ihr Recht, sich darüber hinwegzusetzen? Sie sind keine Enthüllungsreporterin, die schändliche Machenschaften ihrer Freundin aufdecken und dokumentieren muss. Ein Bild gegen den erklärten Willen der Abgebildeten aufzunehmen ist übergriffig im klassischen Sinne, ein Übergriff in deren Rechte und Sphäre. Und zwar nicht erst dann, wenn Sie das Bild veröffentlichen.
Einen Übergriff stellt es allerdings auch dar, dieses Bild hinter Ihrem Rücken einfach von Ihrer Kamera zu löschen. Und obwohl dieser Übergriff auf den ersten Blick schwerwiegender erscheinen mag als der, einfach ein Foto zu schießen, halte ich ihn für weniger schlimm, weil er in gewissem Maße nur der Verteidigung eigener Rechte dient – ein Grund, den Sie für das Fotografieren nicht anführen können. Natürlich hätte Ihre Freundin fragen sollen und Sie bitten, das Foto zu löschen, statt heimlich handgreiflich zu werden. Nur drängt sich mir, wenn ich Ihre Zuschrift lese, der Verdacht auf, dass das womöglich zu längeren Diskussionen hätte führen können, wenn nicht gar fruchtlos gewesen wäre.
Und nun? Entschuldigen Sie sich beide, freuen Sie sich, dass Sie sich haben, und respektieren Sie in Zukunft Ihre jeweiligen Sphären.
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Quellen:
Susan Sonntag, Über Fotografie, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1980
Sowie speziell zum Thema Schnappschüsse und Fotos von Menschen die Ausführungen von Thomas Bernhard in seinem Roman Auslöschung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986 ab Seite 26
Illustration: Marc Herold