Die Gewissensfrage

Eigentlich ist unsere Leserin gegen antiquierte Geschlechterrollen. Bei der Partnerwahl sind es dann aber doch die »echten Kerle«, die sie attraktiv findet. Ist diese Inkonsequenz legitim?

»Als emanzipierte Frau sieht man Rollenbilder als antiquiert an und ist überzeugt, dass Gleichberechtigung in jedem Lebensbereich wichtig ist. Nur bei der Partnerwahl möchte man schon gern den ›echten Kerl‹, der auch die Küchenzeile aufbauen kann. Ist diese Widersprüchlichkeit legitim? Oder verrät man damit die eigenen Wertvorstellungen?«  Katrin D., Marburg

Sie sprechen von der Partnerwahl, das heißt, es geht um eine Zweierbeziehung, und im Grunde sollte deren Gestaltung in weitem Umfang den beiden Beteiligten überlassen bleiben. Dennoch scheinen mir hier drei Aspekte von allgemeiner Bedeutung: zum einen, ob Ihre Vorstellung von einem Partner auch wirklich Ihre persönliche ist oder Ihnen nicht vielmehr - von der Gesellschaft oder Ihren Eltern - übergestülpt wurde, ohne dass Sie sich dessen bewusst sind. Das wäre eine Frage der Freiwilligkeit und damit Ihrer Autonomie. Zum anderen, ob Sie diese überkommenen Rollenbilder nicht durch Ihr Verhalten am Leben erhalten und damit weiterverbreiten und -geben, besonders auch an Ihre Kinder. Und schließlich das, was Kant »die Menschheit in deiner Person« nennt: Jeder Mensch ist immer nicht nur der individuelle Mensch, sondern zugleich Teil der Menschheit und damit auch deren Stellvertreter. Auf Ihre Situation bezogen: Wenn Sie in Ihrer Beziehung überkommene Rollenvorstellungen wiederaufleben lassen, tun Sie das nicht nur für sich selbst, sondern stellvertretend für alle Frauen. Dies alles lässt die archaische Partnerwahl fragwürdig erscheinen.

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Allerdings haben diese Überlegungen auch eine praktische Grenze: Sexuelle Attraktion ist nur in geringem Umfang dem Verstand unterworfen. Mit anderen Worten, es bringt nicht viel, wenn Sie Ihrem Verstand folgen und einen Partner wählen, den Sie theoretisch für ideal halten, den Sie aber nicht lieben oder von dem Sie sich nicht sexuell angezogen fühlen.

Was dann? Ich habe hier Hoffnung. Sosehr der Mensch - Frau wie Mann - hier jenseits der Vernunft handelt, bleibt er oder sie doch ein Vernunftwesen. Als solches können beide ihre Geschlechterrollen zwar spielen, aber zugleich reflektieren. Und dadurch, ohne den Spaß dabei zu verlieren, humorvoll als das entlarven, was sie in Wirklichkeit sind: Theater. Manchmal Komödie, manchmal Tragödie.

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Literatur

Immanuel Kant verwendet die Formulierung „die Menschheit in deiner Person“ außer an der bekannten Stelle in der Zweck-Mittel-Formel seines Kategorischen Imperativs: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe S. 429) in der Form „die Menschheit in seiner Person“ auch in der Metaphysik der Sitten" im Kapitel „Von der Kriecherei“:
„Allein der Mensch, als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann. Die Menschheit in seiner Person ist das Objekt der Achtung, die er von jedem andern Menschen fordern kann; deren er aber auch sich nicht verlustig machen muss. Er kann und soll sich also nach einem kleinen sowohl als großen Maßstabe schätzen, nachdem er sich als Sinnenwesen (seiner tierischen Natur nach), oder als intelligibeles Wesen (seiner moralischen Anlage nach) betrachtet. Da er sich aber nicht bloß als Person überhaupt, sondern auch als Mensch, d. i. als eine Person, die Pflichten auf sich hat, die ihm seine eigene Vernunft auferlegt, betrachten muss, so kann seine Geringfähigkeit als Tiermensch dem Bewusstsein seiner würde als Vernunftmensch nicht Abbruch tun, und er soll die moralische Selbstschätzung in Betracht der letzteren nicht verleugnen, d. i. er soll sich um seinen Zweck, der an sich selbst Pflicht ist, nicht kriechend, nicht knechtisch, (animo servili), gleich als sich um Gunst bewerbend, bewerben, nicht seine Würde verleugnen, sondern immer mit dem Bewusstsein der Erhabenheit seiner moralischen Anlage (welches im Begriff der Tugend schon enthalten ist), und diese Selbstschätzung ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst." (Akademie Ausgabe, S. 434ff.)

Erving Goffman: Das Arrangement der Geschlechter, in: ders. Interaktion und Geschlecht, herausgegeben und eingeleitet von Hubert A. Knoblauch, mit einem Nachwort von Helga Kotthoff, Campus Verlag, Frankfurt 1994, 2001

Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, Piper Verlag, München 7. Auflage 2009

Helga Kotthoff: Geschlecht als Interaktion. Nachwort in: Erving Goffman, Interaktion und Geschlecht, herausgegeben und eingeleitet von Hubert A. Knoblauch, mit einem Nachwort von Helga Kotthoff, Campus Verlag, Frankfurt 1994, 2001

Christina von Braun/Inge Stephan (Hrsg.): Gender@Wissen, Ein Handbuch der Gender-Theorien, 2.Aufl. Böhlau/UTB Köln, Weimar, Wien 2009 Darin zu diesem Thema insbesondere das Kapitel "Identität" von Claudia Breger, S. 47-65

Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 2000

Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1991

Illustration: Serge Bloch