»Eine meiner Freundinnen vergisst fast immer, mir zum Geburtstag zu gratulieren – was mir nichts ausmacht, aber sie schämt sich dafür. Ich dagegen vergesse ihren Geburtstag nie. Nun spüre ich, dass es ihr lieb wäre, wenn ich ihren Geburtstag auch hin und wieder vergäße. Soll ich ihr gratulieren, auch wenn ich damit schlechte Gefühle auslöse?« Ulla B., Köln
Die Goldene Regel »Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst«, kann man auf unterschiedliche Arten lesen. Klassisch als Aufforderung, wie man andere behandeln soll, eine Regel für das Zusammenleben. Oder, weil sie so elementar ist, auch als Beschreibung für Phänomene eben dieses Zusammenlebens und dadurch Erklärung für unterschiedliches Verhalten. Und sie so zu lesen, erscheint mir hier sinnvoller.
Wenn Ihre Freundin regelmäßig vergisst, Ihnen zu gratulieren, liegt ihr vermutlich - so sie keine grässliche Egomanin ist - generell nicht so viel am Prinzip Geburtstag und sie erwartet auch keine Glückwünsche. Umgekehrt kann man aus Ihrer Geburtstagszuverlässigkeit schließen, dass Ihnen Geburtstage und Glückwünsche wichtig sind, mögen Sie auch das Gegenteil behaupten.
Was folgt nun daraus? Meine erste Empfehlung wäre ganz einfach: Lösen Sie sich beide von den Erwartungen der Goldenen Regel - zum Beispiel indem Sie offen darüber sprechen. Wer an den Geburtstag denkt, soll gratulieren, wer nicht, nicht. Wer Glückwünsche bekommt, soll sich ohne Verpflichtung darüber freuen, wer keine bekommt, das nicht weiter bewerten. Jeder soll den anderen so lassen und nehmen, wie er ist, ob Geburtstagsliebhaber oder Geburtstagsmuffel. Sonst stellt man den Brauch zu gratulieren über die beteiligten Menschen und lässt etwas Positives wie Glückwünsche zur Belastung werden. Wenn das jedoch nicht funktioniert und Sie wirklich den Eindruck haben, Ihrer Freundin wäre es lieber, Sie würden ihren Geburtstag auch einmal vergessen, fände ich es am elegantesten, ihr mit ein paar Tagen Verspätung zu gratulieren. Dann müssen Sie nicht absichtlich Glückwünsche unterdrücken, reduzieren aber den Druck auf Ihre Freundin, sich schlecht zu fühlen, wenn sie umgekehrt nicht an Ihren Geburtstag denkt.
Literatur:
Alfred Bellebaum, Heribert Niederschlag (Hrsg.), Was Du nicht willst, dass man Dir tu' ... Die Goldene Regel - ein Weg zum Glück?, UVK Universitätsverlag Konstanz 1999
Otfried Höffe, Goldene Regel, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, Verlag C.H.Beck, München 7. Auflage 2008
Eine tiefer gehende Analyse der Goldenen Regel findet sich in dem Kapitel „Was Du nicht willst... Die Goldene Regel und ihre Schwächen" in: Rainer Erlinger, Nachdenken über Moral. Gewissensfragen auf den Grund gegangen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, S. 123-160
Illustration: Serge Bloch