»Jedes Jahr gieße ich die Tomatenpflanzen. Und jedes Jahr höre ich damit auf, wenn die letzte Tomate geerntet ist. Manche Pflanzen sind dann schon ziemlich marode, viele noch nicht und etliche dürften danach verdurstet sein. Sollte man ihnen eine Art ›Lebensabend‹ gönnen und sie noch für den Rest ihrer Tage gießen?« Karl H., München
Vor meinem geistigen Ohr höre ich schon den einen oder anderen Leser aufseufzen: »Die Probleme möcht ich haben!« Allerdings ist es ja auch ein Prinzip dieser Kolumne, kleine Probleme aufzugreifen, um damit größere Zusammenhänge aufzuzeigen. Deshalb will ich an eine andere Pflanze erinnern: die sogenannte Bavaria-Buche, eine mehr als 500 Jahre alte Rotbuche, bekannt von unzähligen Abbildungen, Fernsehsendungen und als Ausflugsziel. Nach schweren Schäden hatte man sich vor einigen Jahren dafür entschieden, sie nicht weiter künstlich mit Stahl und Beton zu stützen, sondern »in Würde sterben zu lassen«. Auch hätte man ein etwaiges mutwilliges Beschädigen des Baumes als Frevel empfunden - aber warum? Nur wegen der Menschen, die ihn sehen wollen? Nein, wohl auch wegen der Natur und des Baumes selbst.
Einer Pflanze eine eigenständige Position, ja sogar eine eigene Würde zuzugestehen, scheint daher gar nicht so abwegig. So nennt die Schweizer Bundesverfassung ausdrücklich die Würde der Kreatur auch bei Pflanzen, und innerhalb der Umweltethik kennt man den Biozentrismus, der jedes Lebewesen, also auch jede einzelne Pflanze berücksichtigt wissen will - mit welchem Gewicht auch immer. Darüber hinaus spiegelt sich in Ihrer Überlegung der Gedanke wider, dass wir nicht nur Teil der Natur sind, sondern in, mit und von ihr leben und das Leben um uns herum nicht lediglich als selbstverständliche, beliebig ausbeutbare Ressource sehen sollten. Trotz alledem ginge mir eine, wie man sieht durchaus begründbare Verpflichtung, den Tomatenpflanzen ein Gnadenbrot zu gewähren, ein bisschen zu weit. Wenngleich ich zugeben muss, dass ich die Idee charmant finde, und mir ein Mensch, der so etwas tut, sympathisch wäre. In erster Linie sehe ich darin aber einen guten Anlass, über unser Verhältnis zur Natur nachzudenken.
Hinweise:Artikel über den Tod der Bavaria Buche in der SZ vom 3. September 2013
Der Mensch und seine Umwelt sind vor Missbräuchen der Gentechnologie geschützt.Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen. Er trägt dabei der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft
vom 18. April 1999 Art. 120 Gentechnologie im Ausserhumanbereich
(online abrufbar hier)
Stellungnahme der Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH)
Die Würde der Kreatur bei Pflanzen. Die moralische Berücksichtigung von Pflanzen um ihrer selbst willen
Online abrufbar unter: http://www.ekah.admin.ch/de/themen/wuerde-der-kreatur/
Man könnte hier auch einen Gedanken von Immanuel Kant weiter treiben: Kant lehnte Gewalt gegenüber Tieren ab, weil sie gegenüber der Gewalt gegenüber Menschen abstumpfen würde. Und die Dankbarkeit gegenüber alten Tieren sah er als Ausfluss der Dankbarkeit gegenüber den Menschen. Die Pflichten gegenüber Tieren sah er deshalb als indirekte Pflichten gegenüber sich selbst an. Das ließe sich, gegebenenfalls in abgeschwächter Form, auch auf Pflanzen erweitern.
„In Ansehung des Schönen, obgleich Leblosen in der Natur ist ein Hang zum bloßen Zerstören ( spiritus destructionis ) der Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider: weil es dasjenige Gefühl im Menschen schwächt oder vertilgt, was zwar nicht für sich allein schon moralisch ist, aber doch diejenige Stimmung der Sinnlichkeit, welche die Moralität sehr befördert, wenigstens dazu vorbereitet, nämlich etwas auch ohne Absicht auf Nutzen zu lieben (z. B. die schöne Krystallisationen, das unbeschreiblich Schöne des Gewächsreichs).
In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Theils der Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Thiere der Pflicht des Menschen gegen sich selbst weit inniglicher entgegengesetzt, weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität im Verhältnisse zu anderen Menschen sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird; obgleich ihre behende (ohne Qual verrichtete) Tödtung, oder auch ihre, nur nicht bis über Vermögen angestrengte Arbeit (dergleichen auch wohl Menschen sich gefallen lassen müssen) unter die Befugnisse des Menschen gehören; da hingegen die martervolle physische Versuche zum bloßen Behuf der Speculation, wenn auch ohne sie der Zweck nicht erreicht werden könnte, zu verabscheuen sind.
Selbst die Dankbarkeit für lang geleistete Dienste eines alten Pferdes oder Hundes (gleich als ob sie Hausgenossen wären) gehört indirect zur Pflicht des Menschen, nämlich in Ansehung dieser Thiere, direct aber betrachtet ist sie immer nur Pflicht des Menschen gegen sich selbst."
Aus: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe Band , S. 443 (online abrufbar hier)
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Illustration: Serge Bloch