»Ich finde blinkende Weihnachtsbeleuchtung unökologisch und kitschig und wohne deswegen im einzigen Haus in der Siedlung ohne selbige. Nun haben meine Nachbarn zusammengelegt und mir freudig eine bunt blinkende Weihnachtsbeleuchtung und ein leuchtendes Rentier übergeben. Darf ich das Zeug verschwinden lassen, oder muss ich die Beleuchtung aktivieren?«
Johann R., Ingolstadt
Fast schüttelt es mich bei dem Gedanken, von Nachbarn, und sei es auch durch ein Geschenk, zu Konformität gezwungen zu werden. Zu Uniformität bis hin zum Mitmarschieren im weihnachtlichen Gleichblink. Nachbarschaft ist etwas Wunderbares, kann aber auch strangulieren. Was kommt als Nächstes? Klopft der Siedlungswart an die Tür, weil man zu den Tagen der nationalen Erhebung, sprich Sommermärchen und anderen Spielen, nicht beflaggt hat?
Das Zwangsbeglücken dessen, der nicht mitmacht, hat etwas Gewaltsames an sich. Zudem ist das Prinzip des Schenkens schon von seiner Natur her tendenziell übergriffig. Es ist kein Zufall, dass das wohl berühmteste Geschenk der Geschichte, das Trojanische Pferd, genau das symbolisiert: Das vermeintlich freundliche Geschenk ist in Wirklichkeit nur ein Vehikel, um die in seinem Inneren verborgenen gewaltsamen Kräfte hinter die Abwehrlinien der Beschenkten zu schleusen.
Dennoch kommt man nicht umhin, sowohl die sozial verbindende Kraft des Schenkens als auch den Wert einer funktionierenden Nachbarschaft zu schätzen, weshalb ich zögern würde, die Gaben zu ignorieren, was ja im Endeffekt bedeutet, sie inhaltlich zurückzuweisen und die Nachbarn zu brüskieren.
Es gilt daher, einen Kompromiss zu finden, und für dessen Ausgestaltung kann man sich an der Natur der beiden zu verbindenden Werte orientieren: Ihre Autonomie und die soziale Geste des Geschenks. Eine Geste kann man mit einer Geste erwidern, deshalb würde ich die Dekoration zwar anbringen, aber eher knapp vor Weihnachten, die tägliche Illuminationszeit noch knapper halten – und das Ganze über die Jahre mit stark bis jäh sinkender Tendenz. Als Zeichen der Anerkennung muss das reichen, und dann hat Ihre Autonomie wieder eindeutig Vorrang.
Literatur:
Lesenswert zur Autonomie: Michael Pauen, Harald Welzer, Autonomie. Eine Verteidigung, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2015
Die soziale Kraft des Schenkens zeigt der sogenannte Potlatch, ein Geschenkkult von Nordamerikanischen Indianern. Gut beschrieben bei: Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 70ff.
Dazu gibt es den Katalog einer Ausstellung Deimel, Claus, Sarah Elizabeth Holland und Jutta Charlotte von Bloh (Hrsg.), Die Macht des Schenkens. Gaben im Großen Haus der Kwakwaka`wakw an der kanadischen Nordwestküste und am sächsischen Herrscherhof in Dresden. Ausstellung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden im U`mista Cultural Centre, Alert Bay, British Columbia, Canada, Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2011
Allgemein zu den sozialen Mechanismen des Schenkens (mit Bezügen auf den Potlatch) im Hinblick auch auf die verbindende Kraft des Schenkens
Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 9. Auflage 1990.
Christian Stegbauer: Reziprozität. Einführung in soziale Formen der Gegenseitigkeit. 2. Auflage, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011
Einen sehr guten Überblick über das Themengebiet bietet die von Frank Adloff und Steffen Mau herausgegebene Textsammlung Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005.
Darin finden sich unter anderem auch Auszüge von wichtigen Stellen aus Marcel Mauss’ Die Gabe (S. 61-72).
Hervorragend aber auch die von den beiden Herausgebern verfasste Einführung „Zur Theorie der Gabe und Reziprozität mit vielen weiteren Literaturhinweisen (S. 9-57).
Für das hier interessierende Phänomen insbesondere: Marshall D. Sahlins, Zur Soziologie des primitiven Tauschs S. 73-91. Georg Simmel: Exkurs über Treue und Dankbarkeit, S. 95-108, aus: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1992, S. 652-670. Alvin W. Gouldner: Etwas gegen nichts. Reziprozität und Asymmetrie, S. 109-123 Peter M. Blau: Sozialer Austausch, S. 125-137.
Die Idee des moralischen Werts der Nachbarschaft, in die der Einzelne als Teil der Gemeinschaft eingebettet ist im Gegensatz zur zunehmenden Individualisierung vertritt die philosophische Strömung des Kommunitarismus
Bell, Daniel, "Communitarianism", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2013 Edition), Edward N. Zalta (ed.). Online abrufbar unter: http://plato.stanford.edu/entries/commun...
Illustration: Serge Bloch