Gemeinsam oder einsam?

Muss man ein schlechtes Gewissen haben, wenn man guten Freunden an Silvester einen Korb gibt?

»Ich habe ein Silvester-Problem. Mein Mann und ich verbringen diesen Abend seit Jahren mit einem befreundeten Paar. Eine gute Freundin, mit der ich das Jahr über viel unternehme, fragt nun seit einiger Zeit, ob wir nicht gemeinsam Silvester feiern wollen. Bisher lehnte ich immer ab, weil uns die gefundene Form sehr behagt und wir alle vier keine Lust haben, sie zu ändern. Ich habe allerdings ein schlechtes Gewissen, da die Freundin mit ihrem Partner dann oft zu Veranstaltungen geht, um an Silvester nicht allein zu sein. Kann ich bedenkenlos feiern?«
JUDITH R., FÜRTH

Die Antwort von Dr. Dr. Rainer Erlinger:
Was für eine komische Idee, sagte eine Freundin, als ich ihr die Thematik schilderte. In erzwungenen Runden würde doch sofort seltsame Stimmung herrschen. In der Tat, dachte ich zuerst, damit könnte die Frage beantwortet sein; zumal es ja legitim ist, gerade die Jahreswende nach eigenen Wünschen zu gestalten. Aber dann führte mich umgekehrt die Besonderheit dieser Nacht zu einem anderen Ergebnis.

Mehr als an vielen anderen Tagen neigen Menschen dazu, die Neujahrsnacht zu ritualisieren: Im Fernsehen läuft immer das gleiche Programm – Stichwort: Dinner for One –, häufig wird über Jahrzehnte hinweg in gleicher Runde nach festgelegtem Schema gefeiert. Dazu gesellen sich Bleigießen, Böllerschießen oder Walzertanzen. Nun sind Rituale in der Psychologie dafür bekannt, dass sie Statusübergänge erleichtern, hier den von einem Jahr ins nächste. Das aber macht es wert, Ihren Wunsch nach möglichst wenig Veränderung zu hinterfragen: Wollen Sie wirklich immer genau gleich anstoßen oder sitzen Sie damit nur einem psychologischen Mechanismus auf?

Meistgelesen diese Woche:

Der zweite Punkt betrifft die Funktion der Silvesternacht: Warum feiert man? Weil man das alte Jahr verabschiedet und das neue begrüßt. Damit werden diese Stunden zu einer Art Brennpunkt, an dem sich Erinnerungen bündeln und Perspektiven öffnen, gerade eben nicht herausgelöst aus dem sonstigen Leben. Nun wollen Sie ausgerechnet die Menschen, mit denen Sie im alten wie im neuen Jahr gern Zeit verbringen, nicht dabeihaben, obwohl es möglich wäre. Sie wollen aber auch nicht allein bleiben, sondern den Abend lieber mit anderen verbringen. Damit machen Sie die Freundschaft zu einer Einbahnstraße. Sie nehmen sich nur, was und wie viel Sie wollen, ohne bereit zu sein, auch zu geben. Das wird dem Abend nicht gerecht. Und dem Prinzip der Freundschaft ebenfalls nicht.

---
Haben Sie auch eine Gewissensfrage?
Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Hultschiner Str. 8, 81677 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.

Illustration: Jens Bonnke