Geschenkt oder gestohlen?

Der Kellner vergisst ein Gericht auf der Rechnung. Ist man verpflichtet, ihn darauf hinzuweisen?

»Beim Bezahlen einer Rechnung in einem Restaurant fiel mir auf, dass ein Essen vergessen wurde. Ich wies den Kellner darauf hin. Das löste innerhalb der Familie Diskussionen darüber aus, ob man das Fehlen des Betrages auch stillschweigend als Geschenk ansehen könnte.« Frank B., München

Hören Sie nicht auf Ihre Familie! Nun, das ist vielleicht etwas zu allgemein. Deshalb: Hören Sie nicht darauf, wenn manche in Ihrer Familie sagen, man könnte den Fehlbetrag stillschweigend als Geschenk ansehen. Der treffendere Ausdruck für ein Geschenk, von dem der Schenker nichts weiß, wäre Diebstahl. Auch wenn juristisch betrachtet keiner vorliegt, vom Sinn her liegt der Begriff hier deutlich näher an der Sache als der des Geschenks. Der nächste Schritt wäre, ein unabgesperrtes Fahrrad auf der Straße »stillschweigend als Geschenk anzusehen«.

Im Grunde handelt es sich um eine Abwandlung der Wechselgeldfrage: Muss man etwas sagen, wenn man bemerkt, dass man zu viel Wechselgeld herausbekommen hat? In beiden Fällen hat man nur dank eines erkennbaren Irrtums des Gegenübers einen finanziellen Vorteil erlangt. Und so, wie man zu viel erhaltenes Wechselgeld reklamieren und zurückgeben muss, weil es einem nicht zusteht, sollte man zu wenig berechnetes Essen reklamieren und bezahlen.

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Mein Hauptargument dafür, den Kellner auf das Fehlen hinzuweisen, ist aber, dass ich es für eine sehr effektive Möglichkeit halte, die Welt besser zu machen. Man hilft, die Moral zu verbreiten, indem man zeigt, dass sie das Leben angenehmer macht, weil nicht jeder kleine Fehler zu einem Schaden führen muss und man anderen Menschen vertrauen kann. Vor allem zeigt man, dass die Moral - und nicht die Maximierung des eigenen Vorteils - der Normalfall, die Standardeinstellung im Zusammenleben ist oder zumindest sein kann.

Das wiederum hat das Potenzial abzufärben. Es würde mich sehr wundern, wenn Ihr Hinweis nicht ein entsprechendes Nachdenken bewirkt. Mindestens beim Kellner, vielleicht bei anderen, die davon hören. Und hoffentlich bei manchen Mitgliedern Ihrer Familie.