»Ich wohne in der französischen Schweiz und habe dort eine kleine Gruppe deutscher Freunde. Wir freuen uns, gelegentlich einen Abend lang Deutsch zu sprechen. Nun fragte einer, ob er seine neue Freundin, eine Engländerin, mitbringen kann. Ich sagte selbstverständlich Ja. Aber ist es okay, dass ich mich ein bisschen ärgere, weil wir nun natürlich Englisch sprechen werden?« Nicole F., Genf
Auf der ersten Ebene handelt es sich um einen Konflikt zwischen Ihrem Wunsch, in der Runde vertraut Deutsch zu sprechen, und dem Wunsch, die Freundin nicht auszugrenzen. Betrachtet man diesen Konflikt aus moralischer Sicht, ist das eine ein persönlicher Wunsch, hart ausgedrückt etwas Egoistisches, das andere ein soziales Verhalten. Noch dazu ein elementares, denn Ausgrenzung ist evolutionär gesehen ein sehr brutales, in Stammesgesellschaften potenziell tödliches Verhalten, und dementsprechend ist ausgegrenzt zu werden sehr verletzend. Das spricht dafür, so, wie Sie es auch taten, die Freundin dazuzubitten.
Ich könnte mir aber vorstellen, dass dahinter ein weiterer Konflikt liegt, nämlich zwischen den diesen beiden Wünschen zugrundeliegenden Phänomenen: einerseits sprachliche Vertrautheit und Sicherheit, die Nuanciertheit und Präzision, die man nur in der Muttersprache je voll erreichen kann, bis hin zur Liebe zur eigenen Sprache; andererseits kulturelle und menschliche Offenheit und Weltgewandtheit. Und vielleicht noch tiefe Gruppenzugehörigkeit versus Weltoffenheit.
Hier, in dieser Konstellation, sind Sie gezwungen, sich zumindest indirekt mit beiden Haltungen auseinanderzusetzen. Das ist nicht angenehm, weil es ein Konflikt ist, der sich nicht vollständig lösen lässt, und weil ein moderner, liberaler Mensch oft mit der Gruppenzugehörigkeit wegen des darin enthaltenen Ausschlusses Externer hadert.
Insofern müssen Sie kein schlechtes Gewissen haben, wenn Sie einen Abend in Ihrer Muttersprache verbringen wollen, und die englischsprachige Freundin sollte dafür Verständnis haben oder umgekehrt vielleicht Interesse, Deutsch zu hören oder zu lernen. Auf der anderen Seite ist es eine sehr schöne Geste, wenn Sie ihr zuliebe Englisch sprechen.
Literatur:
Zur Konflikten rund um unterschiedliche Muttersprachen in einer Gruppe siehe diese Gewissensfrage.
Und auch diese Frage beschäftigt sich mit dieser Problematik im weiteren Sinne.
Zur Gruppenzugehörigkeit gibt es einige interessante Bücher:
Ganz aktuell mit politischen Überlegungen:
Amy Chua, Political Tribes. Group Instinct And The Fate Of Nations, Penguin Press, New York 2018
Grundlegend zur Soziobiologie und damit auch der Evolution der Gruppenzugehörigkeit:
E.O. Wilson, Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte der Menschheit, Verlag C.H.Beck, München 2014
In Bezug auf die Moralpsychologie:
Jonathan Haidt, The Righteous Mind, Penguin Books, New York 2013. Dort vor allem das Kapitel 9: Why are we so groupish?
Ebenfalls in Bezug auf die Moralpsychologie:
Joshua Greene, Moral Tribes. Emotion, Reason, And The Gap Between Us And Them, Atlantic Books, London 2015