Überflüssiges Gerede

Sticheleien und Bemerkungen zum eigenen Verhalten können auf Dauer ganz schön nerven. Darf man seine Mitmenschen auffordern, damit aufzuhören? 

»Kollegen und Freunde kommentieren regelmäßig meine Essgewohnheiten (›Du bist Vegetarierin?‹, ›Ist da überhaupt Milch in deinem Müsli?‹), Passanten äußern sich über das Aussehen meines Hundes (›Der sieht aber lustig aus!‹). Ist es gerechtfertigt, darauf gereizt zu reagieren und mehr Toleranz einzufordern? Ich kommentiere andere ja auch nicht.« Claudia T., Berlin     

Liest man die drei Zitate in Ihrer Frage unvoreingenommen, wirken sie auf den ersten Blick eher harmlos, ja fast freundlich. Vielleicht mit einer kleinen Abstufung. Die Frage nach dem Vegetariertum könnte eine neutrale Auskunftsbitte sein, eventuell als Einleitung, darüber zu sprechen. Die Anmerkung über Ihren Hund hingegen hat trotz ihrer Leichtigkeit einen negativen Touch. Lustig auszusehen ist jenseits der Clownprofession nicht sonderlich erstrebenswert und auch kein Kriterium bei Hundeschönheitswettbewerben. Die Frage nach der Milch im Müsli schließlich ist keine echte Frage, sondern ein kleiner Scherz. Und zwar auf Ihre Kosten.

Damit wären wir beim Kern, bei etwas, das mir schon länger aufstößt: das Sticheln bis hin zu schnippischen Bemerkungen. Aus unerfindlichen Gründen halten es manche Menschen für angebracht, das Verhalten ihrer Mitmenschen laufend mit kleinen Sticheleien zu begleiten oder ständig kleine Scherze darüber zu reißen.

Meistgelesen diese Woche:

Damit will ich weder den Spaß verderben noch einem allgemeinen Desinteresse aneinander das Wort reden. Aber ich halte viele scheinbar witzige Bemerkungen in ihrer Summe weder für witzig, noch spiegeln sie echtes Interesse am anderen. Das Interesse gilt dabei eher dem Ziel, seinen eigenen Witz unter Beweis zu stellen.

Echtes Interesse am anderen hingegen ist gut und förderlich für das Miteinander. Und wer eine ernst gemeinte Frage, warum man kein Fleisch isst, nicht hören will, sollte allein zu Hause essen und Gesellschaft meiden. Doch wer »Ah, unsere Pflanzenfresserin« sagt, möge sich besser als Stand-up-Comedian versuchen. Die Trennlinie verläuft nicht zwischen Schweigen und Reden, sondern zwischen den Polen, ob man sich dem anderen anteilnehmend zuwendet oder dessen Verhalten bewertet und sich lustig macht. Über das eine sollte man sich freuen, das andere kann man sich verbitten.

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Literatur:

Leseempfehlungen zu den Witzen über andere:

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Tugendlehre. I. Ethische Elementarlehre, Von den die Pflicht der Achtung für andere Menschen verletzenden Lastern. C. Die Verhöhnung. § 44 (Akademie Ausgabe Band VI, S. 467)

»Die leichtfertige Tadelsucht und der Hang Andere zum Gelächter blos zu stellen, die Spottsucht, um die Fehler eines Anderen zum unmittelbaren Gegenstande seiner Belustigung zu machen, ist Bosheit und von dem Scherz, der Vertraulichkeit unter Freunden, sie nur zum Schein als Fehler, in der That aber als Vorzüge des Muths, bisweilen auch außer der Regel der Mode zu sein, zu belachen (welches dann kein Hohnlachen ist), gänzlich unterschieden. Wirkliche Fehler aber, oder, gleich als ob sie wirklich wären, angedichtete, welche die Person ihrer verdienten Achtung zu berauben abgezweckt sind, dem Gelächter blos zu stellen, und der Hang dazu, die bittere Spottsucht ( spiritus causticus ), hat etwas von teuflischer Freude an sich und ist darum eben eine desto härtere Verletzung der Pflicht der Achtung gegen andere Menschen. Hievon ist doch die scherzhafte, wenn gleich spottende Abweisung der beleidigenden Angriffe eines Gegners mit Verachtung ( retorsio iocosa ) unterschieden, wodurch der Spötter (oder überhaupt ein schadenfroher, aber kraftloser Gegner) gleichmäßig verspottet wird, und rechtmäßige Vertheidigung der Achtung, die er von jenem fordern kann. Wenn aber der Gegenstand eigentlich kein Gegenstand für den Witz, sondern ein solcher ist, an welchem die Vernunft nothwendig ein moralisches Interesse nimmt, so ist es, der Gegner mag noch so viel Spötterei ausgestoßen, hiebei aber auch selbst zugleich noch so viel Blößen zum Belachen gegeben haben, der Würde des Gegenstandes und der Achtung für die Menschheit angemessener, dem Angriffe entweder gar keine oder eine mit Würde und Ernst geführte Vertheidigung entgegen zu setzen.«

Immanuel Kant, Eine Vorlesung über Ethik, Herausgegeben von Gerd Gerhardt, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1990, S. 254f.

Teil B Ethica VIII. Von den Pflichten gegen andere Menschen
»14. Von der Spötterei
Die Menschen sind teils medisant, teils moquant. Das Medisante ist Bosheit, das Moquante ist Leichtsinn, der da abzielt, andere zu belustigen auf Kosten der Fehler anderer. Zur Verleumdung gehört Bosheit. Oft ist der Mangel an Gesprächigkeit eine Ursache davon, und es nährt auch unsere Selbstliebe, denn alsdann erscheinen unsere Fehler klein. Die Menschen fürchten sich mehr vor der Raillerie als vor dem Medisanten. Denn das Übelnachreden und Verleumdung geschieht insgeheim und kann nicht in jeder Gesellschaft angebracht werden, und ich kann es auch nicht selbst hören, aber die Raillerie kann in jeder Gesellschaft stattfinden. Durch das Raillieren wird der Mensch mehr erniedrigt als durch das Böse. Denn ist man ein Objekt des Lachens von anderen, so hat man keinen Wert und ist der Verachtung ausgesetzt. Man muss aber sehen, worüber man ein Objekt des Lachens von anderen ist. Oft kann man solches dem anderen gönnen, wenn es weder mir noch dem anderen etwas kostet, man verliert dadurch nichts. Ein Spötter von Profession verrät, daß er wenig Achtung vor anderen hat und daß er die Sachen nicht nach dem wahren Werte beurteilt.«

Leseempfehlungen zur Toleranz:

Rainer Forst, "Toleration", in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2012 Edition), Edward N. Zalta (ed.) (hier nachzulesen)

Das Standardwerk zum Thema Toleranz ist: Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003

Heiner Hastedt, Toleranz, Grundwissen Philosophie, Reclam Verlag, Stuttgart 2012

Achim Lohmar, Was ist eigentlich Toleranz? Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 64 (2010), S. 8-32

Einen Überblick über Fragen der Toleranz gibt auch das Kapitel Solange man mich nicht stört... Wert und Grenzen der Toleranz, in: Rainer Erlinger, Nachdenken über Moral, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2012, S. 161-198

Illustration: Serge Bloch