Das Problem: In Deutschland dürfen bisher nur Sehende Blindenlehrer werden.
Die Lösung: Niemand versteht Blinde besser als Blinde, sagen die Eltern eines blinden Kindes, die ihre Tochter von einem blinden Mobilitätstrainer ausbilden ließen. Österreich und Amerika zertifizieren inzwischen blinde Trainer.
Wie sich Juan Ruiz seinen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde erkämpfte, ist bewundernswert: Elegant wedelt er auf seinem Fahrrad durch einen Hindernisparcours, steuert es zielsicher im Slalom an einem halben Dutzend orangefarbener Pfosten vorbei und hurra, jubelt über seinen Weltrekord. Zuvor machte er schon Schlagzeilen als erfolgreicher Ringer. In seiner Freizeit wandert er, jagt gerne auf seinem Mountainbike durch die Berge und fährt Ski. Er hat einen Ruf als Teufelskerl, denn der gebürtige Mexikaner ist zu 100 Prozent blind.
»Das ist schon spektakulär mit dem Fahrradfahren«, sagt Steffen Zimmermann in Berlin über seinen Freund Juan Ruiz, »aber ich finde es schade, wenn Blinde nur dann interessant sind, weil sie Supermusiker sind wie Stevie Wonder oder so verrückte Sachen machen wie Ruiz. Worum es blinden Menschen eigentlich geht, ist im Alltag zurecht zu kommen, den Weg zur Schule und zur Pizzeria zu finden. Wie komme ich zum Bäcker? Wie komme ich in der Sporthalle zurecht? Zu wissen, ich laufe nicht gegen einen Pfosten, ich finde die Tür, und zwar nicht mit Langstock, sondern schon auf Distanz.« Aber auch dabei hilft Juan Ruiz. Zimmermann und seine Frau Ellen Schweizer kennen die Bedürfnisse so genau, weil sie vor zehn Jahren eine blinde Tochter bekamen. Als Anna (Name geändert) anfing zu laufen, wollten sie ihre Unabhängigkeit unterstützen, recherchierten das Trainingsangebot für blinde Kinder und fanden: nichts. »Wir dachten, das darf doch nicht wahr sein«, sagt Zimmermann. »Wo ist die Normalität? Das Angebot an Bildung, an Kinderbüchern? Wir waren am Anfang entsetzt über die Lage.«
Blindenstöcke bekamen Kinder damals üblicherweise erst bei Schuleintritt, weil man davon ausging, sie seien vorher ohnehin nur an der Hand eines Erwachsenen unterwegs. »Es gab nicht einmal kindgerechte Stöcke zu kaufen«, erinnert sich Zimmermann, denn Kinderhände sind natürlich kleiner und brauchen leichteres Material. »Da sagte man uns: Ach, das hat doch Zeit, bis das Kind in die Schule kommt. Das ist, als hätte ihr Kind drei oder vier Dioptrien und man sagt, das hat doch Zeit mit der Brille. Nein, hat es nicht!« Zimmermann nennt das »ein Verbrechen. Das Kind will sich ja bewegen!« Es gab auch kaum Kinderbücher für seine Tochter.
Durch Zufall stießen Zimmermann und Schweizer auf Videos des blinden Amerikaners Daniel Kish und seines Schülers Juan Ruiz, die anderen Blinden beibringen, sich mit Echobildern zu orientieren. Ähnlich finden sich Fledermäuse und Delfine zurecht: mit Echoortung. »Wie Kish da gearbeitet hat, war für mich sofort klar, das ist unser Mann. Wie er sich bewegte, das ganze Paket, die ganze Haltung.«
Kish, heute 52, war mit einem seltenen Augenkrebs geboren worden, im Alter von 13 Monaten wurde ihm auch der zweite Augapfel entfernt. Nicht zur Nachahmung empfohlen: Weil die Eltern mit ihm überfordert waren und ihn weitgehend sich selbst überließen, entdeckte Kish die Nachbarschaft auf eigene Faust. Mehr als einmal pflückten Nachbarn das kletternde Kleinkind aus den Bäumen. Kish brachte sich selbst im Alter von zwei Jahren die sogenannte Klicksonar-Technik bei, einfach durch die Entdeckerfreude eines Kleinkindes, ohne dass ihn irgendwer darauf gestoßen hätte. Vereinfacht ausgedrückt, schnalzt Kish leicht mit der Zunge und lernt aus dem Echo, wie weit Autos, Fußgänger und Zäune entfernt stehen, wie groß sie sind, in welche Richtung sich jemand bewegt. Seine Eltern erwarteten von ihm, dass er all das macht, was sehende Kinder auch machen. Er ging in Kalifornien auf eine Regelschule, hatte nicht einmal einen Blindenstock, und verließ sich zwar auf Schulbücher in Braille-Schrift, aber ansonsten auf die Hilfsbereitschaft seiner Mitschüler und seine Kunst, mit den Ohren zu sehen.
Ich habe Daniel Kish vor kurzem im kalifornischen Long Beach getroffen. Der studierte Psychologe ist Gründer des gemeinnützigen Vereins World Access for the Blind und hat mir gezeigt, wie er sieht: Er bat mich in seinem Wohnzimmer, meine Augen zu schließen und holte einen Teller aus der Küche. Auch mit geschlossenen Augen konnte ich spüren, dass er da etwas tellergroßes, Schweres links von meinem Gesicht bewegte, es mal näher und mal weiter entfernt hielt. »Mit solchen Erstübungen verbringen wir vielleicht fünf Minuten«, erklärte er seine Lerntechnik. Dann gingen wir auf die Straße und ich sah staunend zu, wie er mit schnellen Zungenschnalzern die Umgebung »abtastete«. Klick, da ist eine Hecke, das Echo klingt sanfter als das einer Mauer. Klick, klick, da kommen zwei Fußgänger. Klick, macht er einen Bogen um ein parkendes Auto.
Kishs Schützlinge skateboarden und spielen Basketball, sein Schüler Erik Weihenmayer hat als erster Blinder den Mount Everest bestiegen
Fast jeder Blinde nutzt passive Echoortung, etwa die vorhandenen Echos von Geräuschen oder des Auftackens des Stocks. Kish aber hat die aktive Klicksonar-Technik weiterentwickelt und perfektioniert. »Er ist eine Ausnahmeerscheinung,« sagt Zimmermann anerkennend. Kishs Schützlinge skateboarden und spielen Basketball, sein Schüler Erik Weihenmayer hat als erster Blinder den Mount Everest bestiegen und sein Schüler Juan Ruiz hält nicht nur den Weltrekord im blinden Hindernis-Parcours-Fahren, sondern gemeinsam haben sie die Kunst inzwischen Tausenden von Schülern auf der ganzen Welt beigebracht. Die Technik kann mit regelmäßiger Übung jeder lernen, aber nur wenige beherrschen sie so elegant wie Kish und Ruiz. Gehirnscans zeigen, dass bei ihnen im Gehirn beim Klicken die Regionen aktiv werden, die für das Sehen zuständig sind, nicht die für das Hören. Die beiden entwerfen buchstäblich ein dreidimensionales visuelles Bild mit ihrer Echowahrnehmung.
Zimmermann und Schweizer gründeten 2011 den Verein Anderes Sehen, um die Technik nach Deutschland zu holen. Sie laden seither Kish und Ruiz regelmäßig nach Berlin ein, um Workshops für blinde Kinder und Erwachsene zu halten. Kishs jüngste Schülerin ist drei Jahre alt, der älteste 90. »Blinde Menschen sind ja überall unter uns,« sagt Zimmermann. »20 bis 30 Prozent von uns werden im Alter so schlecht sehen, dass wir als fast blind gelten. Solange man nicht behindert ist, ist man nur vorübergehend nicht behindert.« Die beiden studierten Grafikdesigner publizieren nun mit Hilfe von Privatspenden Kinderbücher, die blinde und sehende Kinder gleichermaßen be-»greifen« können. »Die sind so schön, dass sehende Kinder sie auch haben wollen«, schwärmt er, und er hat vor vier Jahren auch Blindenstöcke für Kinder entwickelt, »die sind auch so schön verziert, dass andere Kinder sie cool finden.« Auch beruflich konzentriert sich der Grafikdesigner nun auf »blindenpädagogisch sinnvolle Grafiken« beispielsweise für Museen und Ausstellungen; er berät unter anderem Bauherren zum Thema Barrierefreiheit.
Insgesamt hat der Verein in den letzten acht Jahren die Akzeptanz für die Echoortung bei Blinden, Eltern und auch einigen deutschen Blindenschulen signifikant erhöht. Aber das größte Hindernis haben die Eltern noch nicht überwunden: In Amerika und Österreich sind blinde Mobilitätstrainer wie Daniel Kish und Juan Ruiz offiziell anerkannt, Krankenkassen übernehmen das Training. In Deutschland dagegen gibt es offiziell keine blinden Mobilitätstrainer. Hier ist Sehkraft eine Voraussetzung, um Trainer zu werden. Zimmermann sagt, er habe die beiden deutschen Institute, die Mobilitätstrainer nach einer zweijährigen Ausbildung zertifizieren, angefragt, aber würden Juan Ruiz nicht zertifizieren. »Von Versicherungsseite her gibt es Bedenken, wenn ein blinder Mensch für einen anderen Blinden die Verantwortung trägt«, hat Zimmermann gelernt. Ein erfahrener Klicksonar-Experte wie Daniel Kish hat auf alle praktischen Bedenken eine Antwort: Er wird ja selbst auch nicht überfahren, weil er Autos und Radfahrer näherkommen hört. Hindernisse wie Pfosten und Mitmenschen identifiziert er mit der Echoortung. Die Frage, wie er etwa einen Schützling in einer Menschenmenge oder im Straßenverkehr ortet, löst er pragmatisch: Er bittet seine Schüler vielleicht, einen Schlüsselbund zu tragen oder eine Falknerglocke.
Auch Zimmermann hat »ein ganz ruhiges Gewissen, wenn unsere Tochter zwei Stunden lang mit Juan oder Daniel draussen unterwegs ist.« Genau darum geht es ja: Unabhängigkeit. Sie soll sich zutrauen, sich draussen ohne Händchenhalten zurecht zu finden. »In Deutschland gab es bisher nur den klassischen Mobilitätstrainer, der den Kindern Mobilität auf traditionellen Wegen unterrichtet.« Das heisst meistens, dass die Kinder den Weg von zuhause zum Bus und vom Bus zur Schule auswendig lernen, aber sie sind dann auch an diese auswendig gelernten Routen gebunden und entwickeln weniger das Selbstvertrauen, unbekannte Wege zu gehen, als es bei Kish und Ruiz der Fall ist.
Steffen Zimmermann gefällt besonders Kishs »Ohne-Grenzen-Haltung«: dass die Kinder ermutigt werden, soviel wie möglich selbst zu tun. Die Eltern liessen ihre Tochter schon früh an Klettergerüsten herumturnen und ermutigt sie, die Welt zu entdecken. Warum sollen Eltern sie immer an der Hand halten? Warum einen hinuntergefallenen Schlüsselbund für das Kind aufheben, wenn es ihn doch selbst finden kann? Zimmermanns Tochter Anna fährt zwar nicht ohne Erwachsenenhilfe Rad, aber gerne Roller und spielt Fußball im Team. Sie geht in eine Regelschule und nutzt die Echoortung zusätzlich zum Stock zur Orientierung. »Es wurde mal das Gerücht verbreitet, es sei stigmatisierend, wenn man auf der Straße mit der Zunge klickt«, sagt Zimmermann. »Aber so ein Klick ist so leise, wer sollte darauf achten?«
Inzwischen haben Kish, Ruiz und die von ihnen ausgebildeten Mobilitätstrainer Zehntausende Schüler in 41 Ländern trainiert, in Afrika, Asien, Europa und Australien. In Amerika hat Kish mühsam durchgesetzt, dass er und zwei weitere blinde Trainer offiziell zertifiziert sind, aber leicht war es nicht. In Österreich wurde Klicksonar zum Ausbildungsstandard gemacht. Juan Ruiz zog vor einigen Jahren nach Wien und die für Blindenpädagogik zuständige Stelle schickte ihn in alle österreichischen Bundesländer, um mit Schülern und Eltern zu arbeiten. Dass Ruiz und Kish in Deutschland nicht als Trainer anerkannt werden, heisst auch, dass die Krankenkassen nicht die Kosten und Versicherungen nicht das Risiko übernehmen. Kish und Ruiz dürfen natürlich Workshops geben, aber alles auf Spendenbasis, eigene Rechnung und eigenes Risiko.
Zimmermann ist sich sicher, dass Menschen wie Juan Ruiz und Daniel Kish anderen blinden Menschen am besten beibringen können, sich zu orientieren und frei zu bewegen: »Kein Sehender kann das genau so gut vermitteln wie ein Blinder selbst. Wir sind der absolut festen Überzeugung: Nur ein blinder Mensch weiß, wie ein blinder Mensch lebt und wahrnimmt.«