Leo Druyts hat die Kartoffeln geschält, trägt die dampfende Schale auf und setzt sich zu dem älteren Ehepaar an den Esstisch in dem Häuschen in der belgischen Kleinstadt Geel. Dass die Familie gemeinsam frühstückt und zu Abend isst, ist Druyts ganz besonders wichtig, beim unserem Telefonat, neben ihm ist auch sein Psychologe abwesend, betont er das immer wieder. »Wenn ich nach Hause komme, bin ich nicht allein.« Ein ganz normales Familienleben, könnte man meinen, und das ist es auch, aber mit einer Besonderheit: Der 65 Jahre alte Leo Druyts ist mit seinen gleichaltrigen Gasteltern nicht verwandt.
Druyts war Buchhalter, aber vor fünf Jahren ging die Firma pleite, für die er viele Jahre gearbeitet hatte. »Damit begannen meine Probleme«, sagt er, »Ich saß zu Hause und wurde immer einsamer. Ich hatte keine Hobbies, denn die Arbeit war mein Hobby gewesen.« Druyts wurde so depressiv, dass er psychiatrische Hilfe suchte. Er lebte damals in einer Kleinstadt bei Antwerpen. Der Psychiater empfahl ihm das Psychiatrische Seelsorgezentrum OPZ in Geel. Dort waren sich Patient und Arzt einig, dass er nicht mehr selbständig leben konnte. Aber statt ihn in der Klinik zu behalten oder ein betreutes Wohnheim für ihn zu suchen, schlug ihm der Arzt eine dritte Möglichkeit vor: Was halte er davon, zu einer Familie in Geel zu ziehen?
Air BnB kennt jeder, aber diese flämische Stadt vermittelt keine touristischen Hausgäste, sondern psychisch Kranke. Die bleiben nicht nur für Wochen, sondern oft für Jahre oder sogar Jahrzehnte. Mit Gewinn für alle Beteiligten. »Ich dachte ein halbes Jahr darüber nach«, sagt Druyts bedächtig, dann entschied er sich, es auszuprobieren. Ende 2015 fand OPZ eine Familie für ihn. Er freut sich besonders darauf, dass seine Gastgeber vier Kinder und Enkel haben, die über die Feiertage zu Besuch kommen. »Wir werden das neue Jahr zusammen einleiten«, sagt Druyts stolz.
Für das Interview mit Druyts und seinem Psychiater musste ich sechs Monate lang warten, so groß sind der Andrang und das Interesse an diesem ungewöhnlichen Projekt, dem ältesten Psychiatrieprogramm der westlichen Welt. Psychiater, Akademiker und Journalisten nehmen lange Wartezeiten in Kauf, um die unüblichen Gemeinschaften unter die Lupe zu nehmen. Die Idee des betreuten ambulanten Wohnens bei Familien gibt es natürlich auch in Deutschland, aber in einem viel kleineren Rahmen. Geel ist die älteste und aktivste Pflegegemeinschaft Europas.
Druyts schätzt besonders, dass er mehr Freiheiten hat als in einer Klinik oder einem Heim. Er macht nun die Buchhaltung für eine kleine Vereinigung von OPZ und hilft an vier Tagen in der Woche im Besuchszentrum aus. An den Wochenenden besucht der zweifach Geschiedene seine 90-jährige Mutter, mittwochs seine Tochter, Schwester oder Freunde. Die Frage liegt auf der Hand: Warum wohnt er nicht bei seiner eigenen Familie? Darauf ist seine Reaktion so heftig abwehrend, dass er alle Nachfragen abwürgt.
Die wenigsten Pflegefamilien springen wieder ab. Im Durchschnitt bleiben die Gäste 30 Jahre.
Jeder Vierte wird laut der Weltgesundheitsorganisation mindestens einmal im Leben eine psychische Krankheit erleben, und oft werden die eigentlichen Symptome noch verschärft durch das Stigma, das auch heute noch viele mit dieser Diagnose verbinden. Wie Druyts fühlen sich viele psychisch Kranke isoliert, haben das Gefühl, nicht dazu zu gehören, und sind von ihren eigenen Familien entfremdet. Bei dem Modell in Geel geht es nicht um Akutintervention, sondern um jahrelange, manchmal jahrzehntelange Integration. Ganz viele leben in einem Zwischenbereich: zu gesund, um stationär unter Beobachtung leben zu müssen, aber zu krank, um alleine zurecht zu kommen.
Das »innovative« Modell von Geel ist 700 Jahre alt. Es geht nicht auf den Geistesblitz eines modernen Psychiaters zurück, sondern auf einen Mythos. Der Legende zufolge war Dymphna eine irische Prinzessin, die im 7. Jahrhundert aus dem Palast floh und von ihrem psychisch kranken Vater in einem Wald bei Geel ermordet wurde. Ihre Leiche wurde an Ort und Stelle begraben, bald gab es Bericht von Spontanheilungen an ihrem Grab. Heute steht dort die gothische Kirche der heiligen Dymphna. Seit dem 13. Jahrhundert pilgern vor allem psychisch kranke Heilsuchende aus ganz Europa zur Kirche und hoffen, eine Wunderheilung zu erleben. Damals dachten viele noch, psychisch Kranke seien vom Teufel besessen, aber Geel schien da schon ein Zufluchtsort zu sein, in dem Menschen mit Empathie und Gastfreundschaft aufgenommen wurden. Wenn der Andrang zu groß und die Räume der Kirche gar zu überfüllt waren, öffneten die Dorfbewohner ihre Häuser und ließen die Pilger bei sich übernachten. Manche reisten nie wieder ab.
So begann es, das Wunder von Geel. Lange bevor im Land Hunderte von Jahren später das erste psychiatrische Krankenhaus eröffnet wurde, hatte Geel bereits ein funktionierendes Netz von Pflegefamilien. Die Kirche organisierte die Vermittlung, bis im 19. Jahrhundert Ärzte übernahmen. Von Wunderheilungen kann heute keine Rede mehr sein, aber doch von einem nachweisbaren medizinischen und psychologischen Nutzen. Die meisten Hausgäste haben schwere psychiatrische Diagnosen wie Schizophrenie oder chronische Depressionen. Fast alle haben dicke Patientenakten und eine lange Liste von Klinikaufenthalten. Auch in Geel kommen sie erst einmal in die Klinik, werden dort beobachtet und betreut. Sind sie auf lange Sicht nicht in der Lage, allein zu leben, versuchen Psychiater, Klienten und Dorfbewohner gemeinsam, die richtige Pflegefamilie zu finden. Alle müssen zustimmen, nur gewalttätige Klienten oder Sexualverbrecher sind von dem Programm ausgeschlossen. »Das Ziel ist, so normal wie möglich zu leben«, sagt der OPZ-Psychologe Wilfried Bogaerts, der das Projekt seit mehr als 25 Jahren betreut. »Es geht darum, für jeden Menschen den besten Platz zu leben zu finden. Die beste Medizin ist Akzeptanz.«
OPZ unterstützt die Familien praktisch, emotional, medizinisch und finanziell. Bis zu 600 Euro bekommen sie pro Monat an Lebenshaltungskosten erstattet. Das ist nicht viel für die Familien, aber »sie bekommen dafür auch Freundschaft zurück«, meint Bogaerts, und für die Klinik ist es wesentlich billiger als die stationäre Unterbringung. Zum Vergleich: Ein Tag in der Pflegefamilie kostet knapp 50 Euro am Tag, inklusive aller Mitarbeitergehälter, stationär in der Klinik wären es knapp 300 Euro. Eine Krankenpflegerin schaut regelmäßig vorbei, um Rat zu geben, Medikamente abzustimmen oder vorbei zu bringen. Überraschenderweise wird den Gastfamilien die Diagnose nicht gesagt, sie bekommen auch kein spezielles Training, und es wird von ihnen nicht erwartet, die medizinische Betreuung zu übernehmen. »Das Geheimnis des Erfolgs liegt eben genau in der alltäglichen Herangehensweise«, sagt Bogaerts. Die Familien und potenziellen Gäste lernen sich kennen, und die Familie wird darüber informiert, was in etwa auf sie zukommen wird, also ob ein Gast zum Beispiel raucht oder nachts kaum schläft. Ansonsten nehmen Hausgäste wie Druyts normal am Familienleben teil, er übernimmt häufig den Abwasch und das Einkaufen.
»Die meisten Hausgäste fühlen sich wohler als in Heimen, sie brauchen weniger Medikamente, sind besser integriert und erleben weniger häufig akute Krisen«, hat Bogaerts beobachtet. Er meint, das Modell funktioniere am besten bei chronischen Diagnosen, die nicht komplett geheilt werden können und wo das Ziel ist, einem Patienten langfristig das bestmögliche Leben zu ermöglichen. Etwa die Hälfte hilft wie Druyts im OPZ oder in Einkaufsläden in der Stadt. Das OPZ bietet auch Tagarbeit in Werkstätten an, vielleicht Gartenarbeit oder in der Fahrradwerkstatt, aber es ist alles freiwillig für diejenigen, die sich dafür begeistern.
Der neuseeländische Psychologe Henck van Bilsen, der das Projekt wissenschaftlich untersuchte, fand bei seinem ersten Besuch als Jungspund in den Siebzigerjahren auf Anhieb, in Geel laufe fast alles falsch. »Vielleicht aus Arroganz oder Naivität dachte ich, es sei einfach Vernachlässigung, dass die meisten Patienten keine intensive Psychotherapie erhalten und einfach machen, wozu sie Lust haben, anstatt zur Beschäftigungstherapie zu gehen. Ich war schockiert, als ich erfuhr, dass die Gastfamilien so gut wie kein Training erhalten.« Aber im Lauf der Jahre, als er immer wieder kam, um die Entwicklung zu beobachten, musste er zugeben, »wie falsch ich mit meiner Meinung lag.« Inzwischen findet er, dass die Überbürokratisierung und die Standardprozeduren in der psychiatrischen Medizin die meisten Menschen in Schablonen pressen und ihnen viel zu wenig Spielraum lasse. Er beschreibt das Geeler Erfolgsrezept als »radikales Mitgefühl und Freundlichkeit. Geel ist wirklich die erste psychiatrische Gemeinschaft in Europa.«
Erstaunlicherweise springen die wenigsten Pflegefamilien wieder ab. Im Durchschnitt bleiben die Gäste 30 Jahre. Aber hin und wieder gibt es Gründe, die Gastgeber zu wechseln: Bei Druyts erster Gastfamilie kriselte die Ehe, das Ehepaar stritt sich täglich, bis es »irgendwann nicht mehr auszuhalten war«, sagt Druyts. Das war zu viel negativer Ballast für ihn. Das OPZ vermittelte ihm ein anderes Paar, beide sind genauso alt wie er. Zu Feiertagen wie rund um Weihnachten bietet das OPZ an, die Gäste bei sich aufzunehmen, damit die Familien unter sich feiern können, aber die wenigsten nehmen das Angebot an. Druyts spricht mit unverhohlener Begeisterung über die bevorstehenden Feiertage und genießt die Vorfreude, mit seinen Mitbewohnern und deren Kindern zu feiern. Die ganze Stadt ist darauf ausgerichtet, Patienten wie alle anderen auch zu behandeln. Nachbarn und Läden begegnen den Gästen, die vielleicht ein wenig anders ticken, mit Geduld und Humor. Stolz wiederholen sie ein oft gehörtes Bonmot: »Halb Geel ist ganz verrückt, und ganz Geel ist halb verrückt.«
Die Herausforderungen liegen woanders: Die Gastgeber werden immer älter, die jungen Familien wollen nicht mehr. Geel hat heute knapp 40000 Einwohner. Die Rekordzahl von Hausgästen lag gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bei fast 4000, inzwischen sind es nur noch 195. »Früher war es fast selbstverständlich, dass die Jungen einen Hausgast aufnehmen, sobald sie zusammenziehen und eine eigene Familie gründen«, erinnert sich Bogaerts. Es war eine Sache des Stolzes, als Gastfamilie »zertifiziert« zu sein. »Inzwischen kommt bei den meisten die Einladung erst, wenn die eigenen Kinder aus dem Haus sind.«
Das Beste an dem Projekt, sagt Wilfried Bogaerts, sei nicht nur, dass die Patienten meist viel zufriedener sind, sondern auch, dass sie die Unterstützung oft zurückgeben: »Wir haben mehrere Familien, in denen die Gastgeber nun zu alt geworden sind, um für sich selbst zu sorgen und die Gäste kümmern sich nun um sie, erledigen Besorgungen und Hausarbeiten. Damit drehen sich die Rollen um: Sie ermöglichen den Gastgebern damit, in ihrem eigenen Zuhause zu bleiben statt in ein Seniorenheim zu ziehen.«
Der älteste Gast, Jefkae Harbant, ist 95 und lebt seit 77 Jahren in Geel. Der Rekordhalter kam als schüchterner 18-Jähriger in die Familie, 1942, als die Nazis Belgien besetzt hielten. Sogar die Nazis, die viele psychisch Kranke in Todeslager deportierten, ließen Geel unangetastet. Die Eltern der Gastfamilie sind längst gestorben, die Tochter Maria Lenaerts, die beim Eintreffen von Harbant sieben Jahre alt war ist nun selbst 83 Jahre alt. Sie sagt, sie führe die Tradition gerne weiter und habe nie daran gedacht, den Gast vor die Tür zu setzen. Er gehöre inzwischen dazu wie ein Bruder.