Das Licht war so schön an diesem Sommerabend in der Bretagne, da holte Günther Huhle nochmal das Motorrad raus. Mit Frau Carola auf der Rückbank genoss er die Urlaubsfahrt auf der französischen Landstraße. Der Wagen vor ihm wurde immer langsamer, Huhle überholte mit etwa 50 Km/h und war auf genau gleicher Höhe, »da bog der nach links ab, ohne Blinker.« Was dann geschah, veränderte nicht nur das Leben der Huhles, sondern wird vielleicht die Notrufortung in ganz Europa revolutionieren.
Es dauerte nämlich 90 Minuten, bis der Notarzt vor Ort war. Carola Petri war über das Auto geflogen und mit sieben gebrochenen Wirbeln und einer lädierten Schulter im Graben gelandet, auch Günther Huhle war schwer verletzt, unter anderem hatte er sich die Hand gebrochen. Aber die Huhles wussten nicht genau, wo sie waren und hatten Schwierigkeiten, den französischen Disponenten die Situation zu erklären. »Auf einer Landstraße« ist halt keine exakte Ortsangabe. Das aber ist die Herausforderung bei einem Drittel aller Notrufe: Die Verletzten können nur ungefähr beschreiben, wo sie sind.
Ihr damals 17 Jahre alter Sohn Viktor war im Ferienhaus geblieben und musste hilflos zuhören, wie seine Mutter im Hintergrund vor Schmerzen schrie, als ihn der Vater vom Unfallort anrief. »Die Disponenten in Frankreich konnten sich kein Bild machen,« erzählt Viktor Huhle, »bis schließlich nach eineinhalb Stunden endlich ein Notarzt meine Mutter mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus brachte.« Carola Petri ist heute, zwei Jahre nach dem Unfall (fast) wieder gesund, aber Viktor Huhle ließ das Erlebnis nicht los: »Ich kann mit meiner Oma Facetimen und mit meinen Freunden Videos in Echtzeit auf Snapchat teilen, aber in einem Notfall nur eine ISDN-Nummer anrufen?« Weil wir alle Hochleistungscomputer in Miniaturform in unserer Tasche tragen, meint der 19jährige BWL-Student aus Grevenbroich, würde es doch viel mehr Sinn machen, wenn die Notarztleitstelle die genaue Unfallstelle mit dem GPS des Handys orten und dann vielleicht auch gleich per Handykamera sehen könnte, was konkret los ist, wie viele Verletzte es gibt und was gebraucht wird. »Nach der Rückkehr aus Frankreich haben wir als Familie beschlossen, eine neue, digitale Notfallkommunikation zu entwickeln.«
»Mit Emergency Eye können wir die Verletzten auf zehn Meter genau orten, ganz ohne Feuerwehr oder Hubschrauber einzusetzen.«
Mit Post-Its am Küchenfenster brainstormte die Familie Ideen, was ein neues Notrufsystem alles haben müsste: GPS-Ortung, Cybersicherheit, Videofunktion. Das war der Beginn von Emergency Eye, einer neuen Software, die nun im Heimatort der Huhles, im Rheinkreis Neuss, schon erfolgreich eingesetzt wird. »Wir sind als erstes zur Kreisleitstelle in Neuss gegangen, wo wir wohnen, und die waren direkt begeistert. Wir haben gemerkt: Die brauchen das.«
Die Testphase ist abgeschlossen. Wer heute in Neuss mit dem Handy die 112 wählt, sieht ein Fenster auf dem Bildschirm auftauchen und es gibt etwa folgenden Dialog: »Sind Sie damit einverstanden, dass wir auf Ihren Ort zugreifen?« Neben den üblichen Fragen – Wer sind Sie? Was ist passiert? Wie viele Verletzte? – kann die Leitstelle bitten: »Dürfen wir auf Ihre Kamera zugreifen?« Wenn ja, »Zeigen Sie mir bitte mal die zweite Wunde über dem Knie.« Ortung und Video sind genau zwei Klicks entfernt.
Thomas Dilbens, der Chef der Rettungsleitstelle in Neuss, hält die neue Notruftechnik für »lebensrettend. Gerade hatten wir wieder einen Anruf, wo sich jemand den Fuß gebrochen hat, aber nur wusste, er ist am Rheinufer. Na, das ist ziemlich lang. Mit Emergency Eye können wir die Verletzten auf zehn Meter genau orten, ganz ohne Feuerwehr oder Hubschrauber einzusetzen.« Bei den knapp 1000 Notrufen, die seine Leitstelle pro Tag bekommt, habe noch nie einer die Ortung abgelehnt.
Apps für den Notfall gibt es zu Hunderten, manche sind sehr gut, andere versagen, wenn man sie am meisten braucht. »Da verlieren wir wertvolle Zeit«, sagt Dilbens. »Die Vielzahl der verschiedenen Apps ist eher ein Problem für die Leitstellen«, meint Viktor Huhle. »Die haben uns gebeten, bitte nicht noch eine App zu entwickeln, denn die können einen in Sicherheit wiegen, aber wer findet dann in der Panik den richtigen Knopf für die App?« Und natürlich haben die meisten Menschen Notfall-Apps gar nicht erst installiert. Manche Notrufzentralen können jetzt schon über SMS oder WhatsApp die Anrufer orten, aber diese Daten laufen immer über den Server von Drittanbietern. Bei der Emergency Eye Software installieren Handy-Besitzer keine App, das Dialogfenster taucht automatisch auf, sobald sie den Notruf wählen, und die Disponenten greifen – mit Erlaubnis des Anrufers – direkt auf das Smartphone zu.
Die Idee dazu hatte Viktor Huhle schon früher, vor dem Motorradunfall vor zwei Jahren, als er mit 17 an einer Academy für Junior Management teilnahm. Vater Günther Huhle ist nämlich von Beruf Arzt und kam eines Tages mit der Information nach Hause, dass jeden Tag 250 Menschen in Deutschland an Herz-Kreislauf-Stillstand sterben, und zwar auch deshalb, weil weniger als zehn Prozent nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand erfolgreich wiederbelebt werden. Dabei ist bei einem akuten Herz-Kreislauf-Stillstand sofortige erste Hilfe überlebenswichtig und Studien haben gezeigt, dass Coaching per Video im Notfall einen entscheidenden Unterschied machen kann. »Die meisten haben den Erste-Hilfe-Kurs aus der Fahrschule schon wieder vergessen und machen dann lieber gar nichts als das Falsche zu tun,« sagt Viktor Huhle, »obwohl heute für den telefonischen Notruf in mehr als 60 Prozent der Fälle Smartphones genutzt werden, und damit Hochleistungscomputer. Da könnte man doch wirklich die Kommunikation zwischen Laienhelfern und Notfallleitstellen verbessern.« Bessere Kommunikation mit besserer Technik könne, so hofft Huhle, Hunderte von Leben retten. »Ich finde, es hat sich schon gelohnt, wenn dadurch ein Leben gerettet wird.«
Zusammen mit der Universität Köln, der Rheinischen Hochschule Köln, dem Karlsruher Institut für Technologie und der Katholischen Universität Leuven feilten die Huhles die Technik aus. Die EU förderte das Projekt im letzten Jahr als Startup durch EITHealth (European Institute of Innovation and Technology). Aus der Familienidee ist inzwischen eine Firma geworden, Corevas, geführt von Carola Petri mit neun Angestellten. Was die Lizenz für die Software die Leitstellen genau kostet, hängt von der Einwohnerzahl ab, aber jedenfalls bleiben die Kosten laut Huhle »unter einem Cent pro Bürger pro Monat.« Bis Ende des Jahres wollen die Huhles Emergency Eye in zehn Leitstellen etablieren, schließlich »weltweit oder zumindest EU-weit.« Viktor Huhle träumt davon, in Zukunft auch andere Funktionen zu integrieren. Mit dem Handy könnte der Notarzt zum Beispiel auch den Puls schon aus der Ferne messen.
Obwohl die neue Technik funktioniert, hoffen die Huhles, sie nicht selbst zu brauchen: Motorrad fahren sie seit dem Unfall nicht mehr, ihre Zweiräder hat die Familie verkauft.