Das Problem: Viele Technologien für erneuerbare Energien sind für einzelne Hausbesitzer zu teuer.
Die Lösung: Bürgerinnen und Bürger schließen sich zu Energiegemeinschaften zusammen.
Walter Falger aus Schönau im Schwarzwald wirkt nicht gerade wie ein Revoluzzer. Doch der pensionierte Polizist, 66, nennt sich selbst einen Rebellen – weil er mit Gleichgesinnten die »Revolution des Energy Sharings« vorantreibt. Falger ist Teil eines Experiments, das tatsächlich wichtige neue Impulse für die Energieversorgung in Deutschland geben könnte. Mit 24 anderen »Energierebellen« hat er 2017 das »virtuelle Bürgerkraftwerk« mitgegündet, wie es offiziell heißt; die 25 nennen es lieber das Rebellenkraftwerk. Verkürzt gesagt bedeutet es, dass alle in dieser Gruppe – unter ihnen Bauern, Hausfrauen, Künstler und Programmierer – selbst Strom produzieren, diesen danach aber nicht nur selbst verbrauchen, sondern mit anderen teilen.
»Wir haben uns unter den Bewerbungen ganz bewusst eine sehr diverse Gruppe rausgesucht«, erklärt Projektmanager Frederik Penski, 31, von den Elektrizitätswerken Schönau. »Von der jungen Familie bis zu Rentnern, von sehr technikaffin bis gar nicht, von Leuten, die schon lange erneuerbare Energie produzieren, bis zu Neulingen.« Das einzige, was sie alle gemeinsam haben: Sie sind begeistert von diesem neuen Experiment. »Friendly Users« nennt Penski sie, weil sie in Kauf nahmen, dass, wie bei jedem Experiment, am Anfang auch mal etwas schiefgehen kann.
Jeder Haushalt in der Gruppe teilt die Energie, die er durch Solarpaneele, Thermalanlagen oder Brennstoffzellen produziert. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer nutzen also zuerst die in der Gruppe erzeugte Energie, bevor der Überschuss in das Stromnetz eingespeist und verkauft wird. Ist einmal zu wenig Strom in der Gruppe vorhanden, kann auch übers Netz zugekauft werden. Im Moment ist die Gruppe noch regional, sie alle wohnen in und um Schönau. Aber das Ziel ist, dass irgendwann einmal jeder mitmachen kann, der möchte.
Energieunabhängigkeit hat bekanntlich seit Putins Einmarsch in der Ukraine höchste Priorität. Deutschland muss und will sich aus der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas befreien. Auch um die Klimastandards des Pariser Abkommens einzuhalten, hat sich Deutschland das Ziel gesetzt, bis 2030 mindestens 80 Prozent und im Idealfall 100 Prozent seiner Energie aus erneuerbaren Quellen zu beziehen, und das wird nur gehen, wenn sich Bürgerinnen und Bürger aktiv beteiligen. In der ersten Jahreshälfte 2022 kam übrigens fast die Hälfte (49 Prozent) des in Deutschland verbrauchten Stroms aus erneuerbaren Quellen; andererseits kommt sehr viel, gut ein Drittel, weiterhin aus Kohlekraftwerken.
Bereits heute haben mehr als 20 Millionen Haushalte Solarpaneele auf dem Dach. Laut der Agentur für Erneuerbare Energien kommt schon fast die Hälfte der Solar-, Wind- und Biomasse-Energie von Privathaushalten und Bauern. Aber um die magischen 100 Prozent erneuerbare Energie zu erreichen, müsste wohl fast jedes geeignete Dach und fast jede geeignete Fläche genutzt werden. Experten vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung schätzen, deutsche Bürgerinnen und Bürger könnten insgesamt bis zu 12,8 Milliarden Euro in erneuerbare Energien investieren, wenn man sie aktiv am Energiemarkt teilhaben ließe.
Falger und seine Mitstreiter nennen sich »Prosumer« statt Consumer, weil sie Energie auch produzieren, speichern und handeln
Auch deshalb hat die EU schon 2019 allen Bürgerinnen und Bürgern offiziell das Recht auf »Energy Sharing« zugestanden. (Weil es dafür noch keinen wirklich geeigneten deutschen Begriff gibt, bleiben wir beim englischen.) Das Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass »die möglichen Potenziale für Energy Sharing enorm sind: Über 90 Prozent aller Haushalte in Deutschland könnten mit vergünstigtem Energy-Sharing-Strom versorgt werden.« Schönau im Schwarzwald ist einer der ersten Orte in Deutschland, wo das neue Konzept in die Praxis umgesetzt wird. Es unterscheidet sich von früheren Initiativen nicht nur durch den Gemeinschaftsgedanken, sondern auch durch smarte Technologie und eine digitale Plattform zur Steuerung des Experiments. Statt den einzelnen Hausbesitzern die technische Ausrüstung, die Verwaltung und die Abwicklung zu überlassen, kümmern sich die Elektrizitätswerke Schönau zentral um Technik und Bürokratie.
Falger öffnet die App auf seinem Handy. Damit kann er sofort sehen, wieviel Energie er im Moment erzeugt und verbraucht. Die leuchtende Sonne oben auf dem Bildschirm signalisiert, dass er an diesem sonnigen Sommermorgen bisher 425 Watt produziert und nur 24 verbraucht hat. Die Batterie in seinem Keller hat noch 9 Prozent Ladung vom Vortrag. Auf einen Blick sieht er auch, dass die anderen Mitglieder der Energy-Sharing-Gruppe gerade ebenfalls kaum Energie verbrauchen, also wird der Großteil der Ladung direkt ins Stromnetz eingespeist und verkauft. Insgesamt hat er letztes Jahr fast 14.000 Kilowattstunden erzeugt, von denen er 3.900 selbst verbraucht hat. Den Rest verkaufte er bisher in der klassischen EEG-Vergütung (nach dem Erneuerbaren Energien-Gesetz) für 48 bis 57 Cent pro Kilowattstunde.
Falger ist besonders wichtig, dass er vom Strommarkt weitgehend unabhängig ist. »Wir richten uns mit unserer Nutzung schon auch nach dem Wetter«, erklärt er. »Die Waschmaschine werfen wir halt an, wenn die Sonne scheint.« Im Winter, wenn seine Paneele nur wenig Sonne abbekommen, haben Andere aus der Energy-Sharing-Gruppe vielleicht noch Energie aus ihren Blockheizkraftwerken. »Mir ist es auch Recht, dass der Strom nicht nach Teufels wohin verschoben wird, sondern regional genutzt«, sagt Falger. Außerdem ist er begeistert von den Treffen, wo sich die Mitglieder alle paar Monate über ihre Erfahrungen austauschen.
Falger und seine Mitstreiter nennen sich »Prosumer« statt Consumer, weil sie Energie auch produzieren, speichern und handeln. Die Vor- und Nachteile des Modells werden schnell deutlich, wenn Falger von seinem Weg in die Energieunabhängigkeit erzählt. Vor 20 Jahren war Falger einer der ersten, die in Deutschland Solarpaneele auf dem Dach installierten. Die 80.000 Euro finanzierte er mit einem Bankkredit, den er inzwischen so gut wie abbezahlt hat. Auf dem Dach hat er »rausgeholt, was geht. Wir haben mit 80 Zellen alles zugekleistert«. Außerdem wurde noch eine thermische Anlage auf dem Balkon installiert. »Viele hielten mich damals für einen Spinner«, erinnert sich Falger. Reich geworden ist er mit seinen Paneelen nicht, aber ein Verlustgeschäft war es auch nicht. Zusätzlich installierte er noch einen Holzofen zum Heizen im Winter, denn: »Raus in den Wald mit der Axt geht immer.«
Schönauer Rebellen? Kennen wir die nicht schon? Falger lebt nahe des Ortes, an dem schon einmal eine Energie-Revolution ihren Anfang nahm. Nach dem Reaktor-Unglück von Tschernobyl gründeten Ursula and Michael Sladek 1986 nicht weit weg von Falger die Bürgerinitiative »Eltern für eine atomfreie Zukunft«. Die Lehrerin und der Arzt wollten ihren Stromerzeuger dazu zwingen, von nuklearer auf erneuerbare Energie umzusteigen. Sie organisierten mehrere Bürgerentscheide, kämpften vor Gericht und sammelten mehr als vier Millionen Euro ein, um schließlich den örtlichen Strombetreiber zu übernehmen. So entstanden 1994 die Elektrizitätswerke Schönau, die 2009 in Deutschlands erste Energie-Genossenschaft umgewandelt wurde. Falger war von Anfang an dabei.
Die Sladeks waren damit so erfolgreich, dass sie letztlich den deutschen Energiemarkt umkrempelten. Über die Jahre kauften sie weitere Stromversorger, Stromnetze und Netzbetreiber dazu, wuchsen von fünf auf 150 Angestellte an, und beliefern inzwischen 217.000 Kunden mit 100 Prozent zertifiziertem Ökostrom.
Dies ist der Hintergrund, vor dem Penski als Angestellter der Elektrizitätswerke Schönau nun die nächste Generation von Energie-Rebellen anleitet. Jetzt geht es nicht mehr um Ökostrom, der zentral produziert wird, also zum Beispiel von Windrädern, sondern um die dezentralisierte Stromproduktion vor Ort. Untergräbt Penski seinem Arbeitgeber damit nicht die Marktgrundlage? »Man könnte sagen, der klassische Energieversorger schafft sich damit ab. Aber genau das wollen wir ja«, sagt Penski. »Wir möchten die Energieversorgung in die Hand der Bürgerinnen legen. Wenn man es zu Ende denkt, schaffen wir uns als Energieversorger nicht ab, sondern verlagern nur das Geschäftsmodell. Wir sehen uns mehr in der Rolle des Dienstleisters.«
Dass Falger und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter ihr Energy-Sharing-Projekt kaum in Eigenregie durchziehen könnten, liegt auch am bürokratischen und gesetzlichen Chaos. »Energy Sharing« steht zwar als Ziel im Koalitionsvertrag, aber bis heute diskutieren Deutschlands Politiker, wie die neue EU-Richtline konkret umgesetzt werden soll, ob und wie solche Initiativen subventioniert werden, wie groß Energy-Sharing-Gemeinschaften werden dürfen, wie die Netzstabilität gewahrt wird, und, ganz wichtig – schließlich geht es ja um Infrastruktur –, wer haftet, wenn etwas schiefgeht.
Falger hatte Glück, dass sein Dach fast ganz nach Süden ausgerichtet und für die Installation von Solarpaneelen geeignet ist. Aber er musste anfangs ein eigens Unternehmen gründen, um den Strom ins Netz einspeisen zu dürfen, und den Aufwand kann und will sich auch nicht jeder zumuten. Zudem werden seine Paneele bald 20 Jahre alt, und laut dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) könnte er mit ihnen dann keine Einnahmen erzielen. Mittels Energy Sharing kann er aber auch weiterhin seinen Strom teilen und verkaufen.
Weitere Vorteile: Die Elektrizitätswerke Schönau haben Falgers 40 Jahre altes Messgerät im Keller durch ein intelligentes High-Tech-Messgerät ersetzt, das direkt mit seinem Handy und PC verbunden ist; außerdem wurde eine gut 10.000 Euro teure Ionen-Batterie installiert (Falger hatte vorher keine). Die Batterie kann Falger laut seinem Vertrag den Energiewerken Schönau irgendwann abkaufen, aber im Augenblick nutzt er sie kostenfrei, denn die EWS probieren bei diesem Modellversuch auch verschiedene Batterietypen aus.
»Um sich an der nationalen Energieversorgung zu beteiligen, braucht man eine sichere Infrastruktur,« erklärt Penski. Er nennt das Pilotprojekt ein »Real-Labor«, um Erfahrungen für die Zukunft zu sammeln. »Wir verschieben die Perspektive vom einzelnen Haushalt auf die Gemeinschaft.«
Wie Walter Falger bezeichnet sich auch Frederik Penski als Überzeugungstäter. Sein erstes Solarmodul bekam er schon als Kind. Später studierte er Erneuerbare Energien am Cologne Institute für Renewable Energy in Köln, bevor er mit seiner Familie nach Schönau zog, um für die Elektrizitätswerke zu arbeiten. Seine Vision geht sogar noch über das jetzige Schönauer Modell hinaus: »Der nächste Schritt ist, die Energie nicht nur zu messen, sondern zu optimieren«, sagt er. Man könne zum Beispiel den Strom aus Elektrofahrzeugen ins Netz einspeisen. »Oder der Nutzer kann programmieren, wieviel Ladung er braucht, um an diesem Tag soundsoviele Kilometer zu fahren, und die Technik stellt sicher, dass das Auto genügend Ladung hat. Das System könnte auch erkennen, Achtung, in den nächsten 15 Minuten wird in der Gemeinschaft die Energie knapp, wir fahren jetzt mal einige nicht essenzielle Geräte runter.«
Ein Unterschied zu »Bioenergiedörfern« wie Jühnde, die ihren Strom autark produzieren und an die Bewohner verteilen, liegt auch darin, dass bei Energy Sharing das öffentliche Netz genutzt wird, während die Energiedörfer »Energie-Inseln« bilden, wie Penski sagt. »Das ist dort alles vor dem öffentlichen Netz«, erklärt er. »Das Besondere beim Bürgerkraftwerk ist, dass wir das öffentliche Netz mitnutzen und die Haushalte über das öffentliche Netz hinweg miteinander verbinden. Die Herausforderung liegt darin, dass diese ganze Entgelt-Systematik und die Umlagen noch nicht darauf ausgerichtet sind. Da muss sich auch noch was ändern, damit solche Modelle auch zum Fliegen kommen.«
Das neue Modell hat also viele Vorteile: Mitglieder von Energy-Sharing-Gemeinschaften können sich Investitionen und Aufwand teilen, außerdem reduzieren sie die Kohlendioxid-Emissionen und beschleunigen die Energiewende. Was aber fehlt, sind klare Richtlinien und vor allem Antworten auf die Frage, wie sich diese Modelle rechnen sollen. All das wollen die Energiewerke Schönau durch den Modellversuch, der mindestens bis 2024 laufen soll, herausfinden.
Ursula Sladek hat das schon vor 30 Jahren erkannt. »Wenn die Regierung es nicht macht«, sagte sie damals, »müssen die Bürger die Sache selbst in die Hand nehmen.« Das gilt heute noch genauso.