Felix Böck erinnert sich noch sehr genau an den Abend vor sechs Jahren, als ihm beim Abendessen mit seiner Freundin im Sushi-Restaurant im kanadischen Vancouver ein Licht aufging. Böck, 33 Jahre alt, aus dem Allgäu gebürtig und von Beruf Holzingenieur, kam gerade recht frustriert von einem großen Forschungsseminar, wo er vor 60 der größten internationalen Holzverarbeiter nachhaltige Lösungen für den Umgang mit Holzabfall vorgestellt hatte. Er hatte viel Applaus erhalten – mehr nicht. »Ich erwartete eigentlich, dass die Leute hinterher Schlange stehen, um mehr Informationen zu bekommen, wie wir weniger Wälder einschlagen und mehr recyceltes Holz verwenden«, sagt Böck.
Warum interessierten sich nicht mehr Holzmanager dafür, wie die irrsinnige Verschwendung von Holz gestoppt werden könnte? »Da sagte meine Freundin: Felix, man muss mit ganz kleinen Schritten anfangen.« Geistesabwesend sah Böck dem Kellner dabei zu, wie der die Essstäbchen in den Abfall fegte, und in dem Moment zündete bei ihm der Gedanke: Was, wenn ich wirklich ganz klein anfange – mit Essstäbchen? »Ich verstand plötzlich, dass ich den Leuten zeigen musste, wie sowas geht, anstatt nur darüber zu reden«, erklärt Böck. »Was, wenn ich ein profitables, nachhaltiges Business aufbaue mit etwas so Kleinem und Unscheinbaren wie einem Essstäbchen? Am nächsten Tag habe ich sofort losgelegt, weil ich vom Ingenieurwesen her wusste, dass es funktioniert.«
Gleich am nächsten Morgen brachte Böck die ersten Sammeleimer in die Restaurants seiner Nachbarschaft und versprach, er werde jede Woche vorbeikommen und den Inhalt abholen. Außerdem fertigte er in seiner Werkstatt aus den Stäbchen die ersten Prototypen: Untersetzer und Schneidebretter. »Die Restaurants sind froh, weil sie weniger Abfall entsorgen müssen, ich freue mich, weil ich den Rohstoff nutze, und der Kunde bekommt hochwertige Produkte.«
Angetrieben wurde er »am Anfang wirklich von der Motivation, als Ingenieur zu zeigen, was man aus einem Material, das eigentlich nichts wert ist, Tolles herstellen kann.« Die Idee ist so bestechend einfach, dass man sich fragt, warum nicht schon früher jemand auf sie kam: Allein in Vancouver werden laut Böck jeden Tag 100.000 Essstäbchen weggeworfen, in asiatischen Metropolen wie Singapur seien es Millionen. »Diese Stäbchen sind meistens aus Bambus, sie werden viele tausend Kilometer um den Globus verschifft und dann 20 oder 30 Minuten benutzt, bevor sie im Müll landen,« sagt Böck. »Dabei kann sich doch keiner gut fühlen.« Böcks inzwischen 35 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sammeln jede Woche die hölzernen Essstäbchen von Restaurants ein. Diese werden bei 200 Grad desinfiziert und zu hochwertigen Produkten verarbeitet: Regale, Schreibtischplatten, Wandverkleidung, Dominosteine, Treppenstufen und vieles mehr. Knapp 10.000 Stäbchen braucht Böck für eine Schreibtischplatte.
Das alles ist längst kein Kleinholz mehr: Inzwischen hat Böck mehr als 70 Millionen Essstäbchen vor der Müllhalde gerettet, und zwar nicht nur in Kanada, sondern auch in Asien und den USA. 60 Lizenzen für »ChopValue«-Mikrofabriken mit jeweils zwei bis 10 Angestellten hat er schon vergeben, 15 davon sind bereits geöffnet, in Metropolen wie Boston, Mexico City und Singapur. Aus Deutschland gab es bisher allerdings keine Interessenten. »Die Deutschen sind da einfach traditioneller und konservativer«, sagt Böck, der bei unserem Zoom-Gespräch im Wohnzimmer seines Elternhauses im Allgäu sitzt.
Der Verarbeitungsprozess funktioniert so: Anstatt Wasser zur Reinigung zu verwenden, was immer eine gewisse Umweltbelastung mit sich bringt, nutzt die Firma hohe Temperaturen und Druck, um die Stäbchen zu desinfizieren. In der von Böck entwickelten hydraulischen Presse werden die Stäbchen »auf den Millimeter genau verdichtet, um verschiedene Materialeigenschaften zu erreichen.« Seine Vision sieht so aus, dass die lokale Ressource auch lokal genutzt wird, statt Rohstoffe oder fertige Produkte aufwändig um den halben Planeten zu verschicken. »Wenn mich ein Kunde aus Singapur anruft, fertigen die Kollegen in Singapur im Idealfall aus den lokalen Chopsticks für den Kunden die individuelle Bestellung und liefern sie ihm dann vielleicht auch noch persönlich.«
Böck bezeichnet sich als »stolzen Allgäuer Schreiner« und nennt die Stäbchen übrigens konsequent »Essstäble«. Viel vom nötigen Knowhow brachte er bereits mit. Nach seiner Schreinerlehre hatte er in Rosenheim Holztechnik studiert, mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit. Für seine Doktorarbeit ging er nach Vancouver, um nachhaltige Businesskonzepte zu untersuchen; in Kanada lernte er dann auch seine heutige Frau kennen. Ursprünglich wollte Böck ein Recyclingprojekt mit Altholz von Baustellen starten, fand dafür jedoch keine Partner. Dabei wäre der Bedarf eigentlich immens. In den vergangenen 60 Jahren ist weltweit der Verbrauch von Holz um knapp 60 Prozent gestiegen, und die Nachfrage lässt sich längst nicht mehr aus nachhaltigen Quellen decken.
Zwischendurch entwickelte Böck formaldehydfreie Klebstoffe für die Automobilindustrie und andere Großfirmen, deshalb wusste er auch gleich, wie er die Esstäbchen kleben kann. Nur die Hydraulikpressen und Maschinen zur Verarbeitung der Stäbchen musste er kaufen, mit denen er dann 2016, kurz nach dem folgenreichen Besuch im Sushi-Restaurant, seine erste »ChopValue«-Fabrik in einem Lagerhaus in Vancouver eröffnete.
Im Sushi-Restaurant Pacific Poke isst der Kunde sein Sushi auf Tischen, die aus alten Stäbchen hergetellt wurden, vor einer Wandverkleidung, für die das Gleiche gilt
Mindestens 100 Mikrofabriken auf der ganzen Welt schweben ihm mit seiner B-Corp vor, 1,5 Milliarden Stäbchen sollen dort verarbeitet werden, aber eigentlich ist auch das für ihn nur der Anfang. »Es mag sich vielleicht lustig oder verrückt anhören, aber das Konzept mit den Chopsticks ist der erste international funktionierende Beweis für eine profitable Kreislaufwirtschaft«, so sagt er. Im Idealfall, wie im Sushi-Restaurant Pacific Poke bei ihm um die Ecke in Vancouver, isst der Kunde sein Sushi auf Tischen, die aus alten Stäbchen hergetellt wurden, vor einer Wandverkleidung, für die das Gleiche gilt. Momentan ist sein Upcycling-Geschäft dennoch nur »ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wir recyclen im Augenblick 0,015 Prozent des globalen Müllproblems.«
Eigentlich hofft Böck, »dass in Zukunft jede Stadt das Konzept von Urban Recycling übernimmt, um nicht einfach den Müll aus der Stadt zu transportieren und zu sagen, Gott, jetzt haben wir's erledigt; jetzt ist der Müll weg. Weil: Weg ist er nie! Wenn wir eine umweltfreundliche Methode schaffen, um mehr oder hoffentlich alle von diesen Materialien so umzudefinieren, dass wir aus dem Abfall eine neue Ressource machen, dass wir dann wieder in Qualitätsprodukte umwandeln, dann habe ich meinen Teil beigetragen.«