Das Problem: Schon von klein auf wird Mädchen beigebracht, sanfter und stiller zu sein.
Die Lösung: Vor allem im Norden Europas experimentieren Kindergärten und Vorschulen mit geschlechtsneutraler Erziehung.
Was ist das nur für eine Schule? In dem einen Raum versammeln sich alle Mädchen, brüllen so laut sie können und werfen sich in Kriegerposen. »Ich bin stark!« rufen sie wieder und wieder, bis der ganze Raum hallt: »Ich bin staaaaaark!« Dann feuern sie mit einer imaginären Armbrust unsichtbare Pfeile in den Raum.
Im anderen treffen sich die Jungs, aber statt mit Handschlag wie die Mädchen begrüßen sie sich mit einer Umarmung. Statt zu brüllen lernen sie, beim Zusammensetzen eines Mosaiks friedlich zu kooperieren. Dann massieren sie sich gegenseitig die Füße.
Das ist ein gar nicht untypischer Alltag in einer isländischen Vorschule. »Wir wollen, dass jedes Kind sein volles Potenzial entfaltet, nicht, dass die Jungs jungenhaft und die Mädchen mädchenhaft agieren. Sondern dass jedes Individuum so sein kann, wie es ist, mit all seinen individuellen und sozialen Fähigkeiten«, sagt die Schulgründerin Margrét Pála Ólafsdóttir.
Von Island wird oft gesagt, es sei das Land, in dem die Gleichberechtigung am weitesten fortgeschritten ist. Zumindest belegt es im Gleichberechtigungs-Index des Weltwirtschaftsforums seit Jahren regelmäßig den ersten Platz. Island hat mit Katrin Jakobsdóttir eine junge, progressive Premierministerin, drängt darauf, dass Firmen Männern und Frauen genau die gleichen Löhne zahlen, und vergibt 40 Prozent aller Vorstandssitze an Frauen. Aber die beruflichen Anstrengungen reichen den Isländern nicht – viele wollen die Benachteiligung von Mädchen da anpacken, wo sie beginnt: im Kleinkindalter.
Seit sie vor 25 Jahren gefragt wurde, ob sie als Direktorin einen Kindergarten leiten möchte, arbeitet Margrét Pála Ólafsdóttir daran, Mädchen und Jungen die gleichen Möglichkeiten einzuräumen. »Man muss verstehen, was Mädchen und Jungen brauchen. Wir bekämpfen die Schwächen in beiden Rollenverständnissen und vermitteln beiden Stärke«, meint Ólafsdóttir. »Und wir bringen den Jungs und Mädchen bei, wie man vernünftig miteinander umgeht, wie man Respekt zeigt und Freundschaften aufbaut. Wir bringen ihnen bei, an sich zu glauben.«
Inzwischen leitet sie mehr als ein Dutzend Kindergärten und Grundschulen – alle ohne die typischen Spielzeuge, Puppenecken und Märchenbücher. Stattdessen toben die Kinder viel draußen in der Natur und lernen, sich ihr Spielzeug selbst zu basteln, ihre Spiele selbst zu erfinden und demokratisch zu organisieren. »Wir sehen, wie die Kinder schon am ersten Tag mit stereotypem Denken reinkommen. Die Mädchen bekommen im normalen Schulsystem wesentlich weniger Aufmerksamkeit und lernen, dass sie weniger wichtig sind.«
Ólafsdóttir glaubt, es könne gar nicht früh genug geschehen, dass Kinder lernen, die Geschlechts-Stereotypen zu durchbrechen – und so auch den Boden für weniger #MeToo-Skandale zu bereiten, denn weniger Geschlechter-Stereotypen führen nachweislich laut einer Studie der amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zu weniger sexualisierter Gewalt.
#MeToo beginnt im Zwergenalter. Das allerjüngste Opfer, das ich persönlich kenne, ist die aufgeweckte, blonde Tochter einer guten Freundin. Cara wurde von zwei Klassenkameraden bedrängt, die sie unbedingt »heiraten« wollten. Als sie sich weigerte, begann das Mobbing. Die Jungs betatschten und begrapschten sie und nannten sie unflätige Namen, die Grundschüler gar nicht kennen sollten. Die Schulleitung sah untätig zu und meiner Freundin blieb nichts anderes übrig, als sie von der Schule zu nehmen und auf eine andere zu schicken. Cara ist sieben.
Weil das keine Einzelerfahrung ist, versuchen immer mehr Schulen und sogar Kindergärten, die Kleinen von Kindesbeinen an darauf vorzubereiten, sich mit Respekt zu begegnen. Psychologen wissen, dass Babys im Alter von einem Jahr - manche sogar schon mit drei Monaten – anfangen, nach geschlechtsspezifischen Spielzeugen zu greifen, ganz typisch die Jungs nach den Spielzeugautos und die Mädchen nach den Puppen. Die alte Debatte Nature vs. Nurture, also ob diese Tendenzen angeboren oder anerzogen sind, wird vielleicht auf ewig unentschieden bleiben. Klar ist, dass sich die Gehirne von Mädchen und Jungen leicht unterschiedlich entwickeln. Aber einig sind sich Pädagogen, dass zumindest einige Aspekte eindeutig anerzogen sind.
»Schon wenn die Kinder zwei Monate alt sind, schätzen Eltern die Krabbelfähigkeit ihrer weiblichen Babys geringer ein als sie tatsächlich ist, während sie die Krabbelfähigkeit ihrer männlichen Babys überschätzen«, sagt mir Joanne Lipman, die gerade für das Buch That`s What She Said recherchiert hat, wie Chancengleichheit aussehen könnte. »Eltern von Jungs googeln mehr als doppelt so häufig ›Ist mein Kind ein Genie?‹ als die Eltern von Mädchen. Das sind unsere unbewussten Vorurteile, und selbst die aufgeklärtesten Menschen sind nicht frei davon.« Lipman war entsetzt, als sie im Rahmen ihrer Recherche selbst einen Test machte, um ihren »unconscious bias« zu überprüfen und dabei trotz ihres Experten-Wissens auch nicht viel besser abschnitt.
Das wohl bekannteste (und umstrittenste) Schulprojekt, das diesen Tendenzen entgegenwirken will, ist Egalia in Schweden. Lotta Rajalin, die Direktorin mehrerer Vorschulen in Stockholm, gründete Egalia im Jahr 2010. Auch bei Rajalin war das Entsetzen über ihr eigenes unbewusstes Verhalten der Auslöser. Überzeugt davon, dass sie und ihr Team die Kinder alle gleich behandelten, filmte sie zunächst sich und ihre Kollegen im Umgang mit den Kleinen. Sie war geschockt, als sie die Aufnahmen auswertete: die Unterschiede waren enorm. Das Team bemutterte die Mädchen eher, sprach mit ihnen in einem anderen Ton und machte ihnen Komplimente, wie hübsch sie seien. Dagegen forderten die Erzieher die Jungs eher zum Toben auf und gaben ihnen wesentlich mehr Aufmerksamkeit. (Untersuchungen der schwedischen Regierung bestätigen, dass das in den meisten Schulen der Normalfall ist.) »Wir sind sehr erschrocken, als wir die Filme anschauten«, sagt Rajalin und beschloss, bewusst gegenzusteuern. »Ich konnte es nicht glauben!«
Deshalb reden die Erzieher ihre Schützlinge konsequent mit »hen« an, dem genderneutralen schwedischen Pronomen, statt »han« für er oder »hon« für sie. Sie sprechen auch nicht von »Jungen« und »Mädchen«, sondern »Freunden«. Wenn Berufe besprochen werden, nehmen sie ganz bewusst eine Astronautin als Beispiel und einen Putzmann oder einen Krankenpfleger. »Wenn von einem Jungen erwartet wird, dass er wild und laut ist, dann verhält er sich auch so«, sagt Lotta Rajalin. »Wir wollen nicht Mädchen zu Jungs und Jungs zu Mädchen erziehen, sondern allen alle Möglichkeiten eröffnen.« In Rajalins Vorschulen finden die Kinder auch keine klassischen Bilderbücher mit hübschen Prinzessinnen und wilden Räubern, sondern stattdessen zum Beispiel ein Bilderbuch, in dem ein männliches Giraffenpaar ein Krokodilbaby adoptiert.
Kein Wunder, dass das Kritiker auf den Plan ruft – vor allem Konservative, denen die tradierten Rollenmuster ganz gut behagen und die für Schwulenehen und Transgender-Kinder ohnehin wenig Verständnis haben. Geschlechterspezifisches Verhalten sei eben normal, die Kinder würden hier indoktriniert, lautet der häufigste Einwand. Dem antworten die Verfechter der geschlechtsneutralen Pädagogik, die Kinder würden ohnehin überall mit Rollenvorstellungen indoktriniert – nur eben unreflektiert. Egalia bekommt regelmäßig Drohungen und Hassbriefe, aber Lotta Rajalin kann da so fröhlich mit den Schultern zucken, dass ihre langen blonden Locken wippen: Ihre Vorschulen sind lange im Voraus ausgebucht, die Wartelisten beträchtlich. Eine Studie der schwedischen Uppsala Universität gibt ihr Recht. Die hat Kinder aus geschlechtsneutralen Vorschulen mit Kindern aus konventionellen Vorschulen verglichen und kam zu dem Schluss, dass die geschlechtsneutral erzogenen signifikant weniger in geschlechtsspezifischen Stereotypen denken. Sie zeigten sich aufgeschlossener für und spielten lieber mit Kindern des anderen Geschlechts.
In Schweden ist Chancengleichheit schon lange Staatsphilosophie, aber auch in den USA, Israel, Mexiko und vielen anderen Staaten experimentieren Kindergärten und Schulen mit ähnlichen Programmen. Viele sind aus Diskriminierungs- und Mobbing-Erfahrungen heraus entstanden, zum Beispiel die »Welcoming Schools« der Human Rights Campaign oder die Expect Respect Programme der SAFE Alliance in Texas. Das Ziel: Dass sich Jungs und Mädchen als nicht gleich, aber gleichberechtigt und ebenbürtig begreifen. Dass sie erkennen und definieren können, was Diskriminierung überhaupt ist. Und dass sie Strategien entwickeln, sich zu wehren.
In Deutschland dagegen scheint die Skepsis zu überwiegen, zumindest ist mir kein Kindergarten bekannt, der die Geschlechterfrage mit dieser Konsequenz angeht. Ich kenne unzählige Eltern, die ihre Mädchen vor der rosa Prinzessinnenfalle und ihre Jungs vor dem Rabauken-Klischee bewahren wollen – und wenige, denen es gelingt. Weil wir tagtäglich, ja, fast ständig Bilder sehen, die unser Rollenverständnis zementieren.
Am meisten, meint Rajalin, müssten daran die Erwachsenen arbeiten, nicht die Kinder. Die wenigsten Leute (Eltern wie Erzieher) glauben von sich, dass sie bei der Kindererziehung Stereotypen befördern. Aber im Alltag, in der Werbung, in den Medien formen sich Mikro-Eindrücke zu felsenfesten Denkmustern.
Wer daran zweifelt, dass wir schon Kleinkindern mit massiven Vorurteilen begegnen, sehe sich das Video der BBC an, das Freiwillige im Umgang mit Kleinkindern filmte:
»Magst du mit der Puppe spielen?« fragt die mütterliche Blondine das kleine Mädchen. Eine andere Betreuerin greift für den kleinen Oliver gleich zum Spielzeugauto. Ach, wenn sie nur wüssten: Die BBC hat kleine Jungs in Mädchenkleider gesteckt und ihnen Mädchennamen gegeben, und umgekehrt. Aus der kleinen Marnie wurde Oliver, aus Edward wurde Sophie. Am schönsten sind die Gesichter der Erwachsenen, wenn sie darüber aufgeklärt werden, dass sie einer Verwechslung aufgesessen sind.