SZ-Magazin: Ich habe aus Ihrem TED-Talk die unglaublichsten Dinge gelernt, zum Beispiel, dass wir Menschen ohne Walkot nicht atmen könnten. Was genau haben Walexkremente mit meinem Atem zu tun?
Asha de Vos: Viele Menschen denken, wir wollen Wale schützen, weil sie so majestätische, charismatische Tiere sind. Aber in Wahrheit geht das viel tiefer: Die Wale brauchen uns Menschen nicht, wir brauchen die Wale. Die Wale sind Ingenieure des Ökosystems, ohne sie würden die Ozeane nicht funktionieren. Wenn sie bis auf den Meeresboden tauchen, um Nahrung zu finden, bringen sie beim Auftauchen wichtige Nahrungsstoffe an die Oberfläche, die das Phytoplankton nähren. Diese mikroskopisch kleinen Pflanzen bilden die Grundlage für das Nahrungssystem im Meer, ohne Phytoplankton gäbe es kein Leben dort, und Phytoplankton ist für die Produktion eines Großteils des Sauerstoffs in der Atmosphäre verantwortlich. Etwa 50 bis 70 Prozent des Sauerstoffs, den wir atmen, wurde von Pflanzen im Meer generiert, und ein beachtlicher Teil davon wurde von Walkot gedüngt. Durch die ansteigenden Wassertemperaturen ist das marine Phytoplankton massiv geschrumpft, im Indischen Ozean haben wir zum Beispiel in den vergangenen sechs Jahrzehnten mehr als 20 Prozent des Phytoplanktons verloren. Das verändert die ganze Nahrungskette. Deshalb sollten wir uns eigentlich bei jedem Atemzug bei den Walen bedanken.
Wie hat die Entdeckung von Walexkrementen Ihr eigenes Leben verändert?
Als ich anfing, mich für Walforschung zu interessieren, fanden das alle um mich herum lächerlich. Wer in Sri Lanka etwas werden will, wird Arzt, Anwalt oder Ingenieur. In Sri Lanka ist das Meer kein Ort, an den wir zum Vergnügen gehen. »Was willst du denn damit?«, fragten alle. Aber ich sah auf das Meer und wusste einfach, dass das das Richtige für mich ist. Als ich es dann endlich auf ein Walforschungsboot geschafft hatte, gab es diesen Moment, als wir vor der Küste Sri Lankas sechs Blauwale sichteten, jeder so groß wie ein Fußballfeld. Sie sprangen aus dem Wasser und dann sah ich Minuten danach diesen unglaublich schönen, leuchtend roten Walkot.
Warum ist er rot?
Weil sich die Wale von Shrimps ernähren. Das wusste nur damals keiner. Alle dachten, die Wale migrieren in kältere Gewässer, wo Krill ist, aber das war der Beweis, dass sie sich auch in wärmeren Gewässern Nahrung suchen. Das war mein Heureka-Moment.
Walschutz ist eine der großen Erfolgsgeschichten dieses Jahrhunderts. 200 Jahre Waljagd haben den Walbestand um 60 bis 90 Prozent reduziert, aber durch die Tierschutzbewegung haben sich viele Bestände seit den Siebzigerjahren erholt. In welcher Form braucht es den Walschutz noch?
Dass Menschen auf der ganzen Welt bei der »Save the Whales«-Bewegung zusammenkamen, um diese Tiere zu retten, war ein Wendepunkt. Aber heute werden die Wale noch von anderen Gefahren bedroht. Die größte unmittelbare Bedrohung ist, dass sie von Containerschiffen überfahren werden. Das heißt, dass auch Sie und ich daran schuld sind, denn wir alle besitzen Dinge, die über die Meere transportiert wurden. Kleinere Wale verenden zudem in Fischereinetzen. Wir beobachten auch den Waltourismus sehr genau. Waltouren sind sicher besser als Walfang, aber es kommt darauf an, wie Waltouren gemacht werden. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen gerade beim Abendessen mit Ihrer Familie, als eine Horde Fremder durch Ihre Tür kracht, laute Musik spielt und ihren Müll überall in Ihr Wohnzimmer wirft. So in etwa läuft das, wenn manche Walboote in Nahrungszonen Halt machen. Deshalb sage ich immer: Lasst uns die Wale retten, aber nicht nur um der Wale willen, sondern auch um unser eigenes Überleben zu sichern. Denn sie helfen auch bei der Bekämpfung der Klimaerwärmung.
Wie?
Wussten Sie, dass Walkadaver etwa 190.000 Tonnen Kohlenstoff aus der Atmosphäre in die Meerestiefen transportieren? Das entspricht dem Ausstoß von etwa 80.000 Autos pro Jahr. Die Meerestiefen agieren als Kohlenstoff-Gräber, weil sie überschüssiges Carbon aus der Atmosphäre speichern. Vermutlich gibt es Arten, die da unten leben, die schon ausgestorben sind, bevor wir überhaupt von ihrer Existenz erfahren. Das ist, was mich an der Meeresforschung fasziniert: Wir kennen nur einen Bruchteil, das meiste haben wir noch gar nicht erforscht.
Sri Lanka hat eine überaus reiche Unterwasserlandschaft, und trotzdem sind Sie die erste promovierte einheimische Meeresbiologin. Wie kann das sein?
Die Fischer betrachten das Meer als Nahrungsproduzent, aber ansonsten haben wir in Sri Lanka eigentlich kein Verhältnis zum Meer. Es ist eher etwas, wovor wir uns fürchten, denn jeder hat Freundinnen oder Freunde ans Meer verloren. Es ist verrückt, wir sind eine kleine Insel, aber eigentlich vollkommen auf das Land fixiert. Das Meer war einfach etwas, das auf dem Schulweg vor dem Busfenster vorbeizog. Erst durch den Tourismus sind das Schnorcheln und Surfen in Mode gekommen. Die Fischer merken natürlich, dass sich die Fischbestände verändern, aber es gab keine proaktiven Schutzmaßnahmen. Ich glaube, die Leute wollten mich mit ihrer Kritik einfach vor einer großen Enttäuschung bewahren. Aber ich sah es als das genaue Gegenteil: Da ist diese große blaue Weite, und wenn man da reinschauen kann, erlebt man eine ganze Wunderwelt. Das betrachte ich jetzt als Teil meiner Aufgabe: Ich will, dass sich die Leute in das Meer verlieben, und verstehe mich als Mentorin für eine ganze Generation junger Forscherinnen und Forscher.
»Wenn Wissenschaftler von außen Daten sammeln und dann wieder abziehen, ohne in die Region zu investieren oder Einheimische auszubilden, ist das nicht nachhaltig«
Haben Ihre Eltern Sie unterstützt?
Ich habe das Glück, in einer Familie aufgewachsen zu sein, die Neugier fördert. Ich konnte immer unheimlich viele Fragen stellen. Meine Eltern haben gesagt: Tu, was du liebst. Mein Vater ist Architekt und maßgeblich verantwortlich für das Bewahren eines UNESCO-Weltkulturerbes, des Galle Forts, einer Festung aus dem 16. Jahrhundert. Daher habe ich meine Liebe zum Bewahren. Und wir hatten immer Haustiere, zum Beispiele Skorpione und Raupen in Gläsern in unserem Kinderzimmer. Wir waren immer draußen.
Das hat Sie offensichtlich gut auf Ihre Karriere vorbereitet. Sie haben monatelang auf Kartoffelfeldern in Schottland gearbeitet, um eine Reise nach Neuseeland zu finanzieren, lebten in Neuseeland sechs Monate im Zelt und schafften es dann nur auf ein Walforschungsschiff in den Malediven, weil Sie dem Booteigentümer drei Monate lang täglich auf die Nerven gingen.
Ich musste ja ins Ausland, um zu studieren, weil es das Forschungsfeld hier nicht gab. Und ich hatte kein Geld. Das Walforschungsschiff der Ocean Alliance hat mich schließlich als Deckarbeiterin einsgestellt, ich habe die Toiletten geschrubbt, aber nach zwei Wochen sagten sie: Okay, du arbeitest enorm hart, und du bist wirklich engagiert. So bekam ich einen ersten Einblick in die richtige Forschung.
Das ist aber auch etwas, das Sie kritisieren: die sogenannte Parachute-Science, also dass Wissenschaftler aus reicheren Nationen einfliegen, wie Fallschirmspringer, die man absetzt, um Naturschätze vor Ort studieren, ohne Einheimische zu beteiligen.
Ein exotisches Land wie Sri Lanka fasziniert viele Menschen aus anderen Ländern. Das verstehe ich, aber die Zukunft und Gesundheit der Küsten hängt von den Einheimischen ab. Wenn Wissenschaftler von außen Daten sammeln und dann wieder abziehen, ohne in die Region zu investieren oder Einheimische auszubilden, ist das nicht nachhaltig. Immer wieder hört man, Wissenschaftler hätten ein neues Volk entdeckt. Das Volk war natürlich vorher schon da, aber irgendwie gilt das nicht, bis ein Wissenschaftler aus dem Westen etwas darüber publiziert. Als Meereswissenschaftlerin habe ich es mit einer patriarchalen Gesellschaft zu tun, die sich zu viele Sorgen um mein Frausein gemacht hat, um zu erkennen, dass ich der einzige Mensch in meinem Land bin mit dem nötigen Wissen und der Erfahrung, den Meeresschutz voranzubringen. Immer wieder begegne ich westlichen Wissenschaftlern, die glauben, sie könnten einen besseren Job machen als ich. Natürlich weiß ich nicht alles, aber wir brauchen Partnerschaften. Als ich den roten Walkot entdeckte, hieß es gleich, wir fliegen jetzt Wissenschaftler ein, die das studieren können. Okay, ich stand ganz unten in der Bootshierarchie, aber ich habe diese Entdeckung gemacht und dann auch gesagt, das erforsche ich jetzt weiter. Und ich gebe mein Wissen weiter. Ich leite Online-Kurse und Workshops, nicht nur für andere Wissenschaftler, sondern auch für die Öffentlichkeit. Jeder hat etwas beizutragen. Wenn jemand eine Firma gründen oder in die Politik will, hoffe ich, dass er oder sie gute Entscheidungen trifft, die auch die Weltmeere betreffen. Wir brauchen eine ganze Armee von Leuten, die den Planeten schützen.
Sie leiten seit 2008 das erste Langzeitforschungsprojekt von Blauwalen im Indischen Ozean. Was ist das Überraschendste, das Sie bei Ihrer Forschung über Blauwale entdeckt haben?
Mehr als in ein Interview passt, aber zum Beispiel: Wissen Sie, dass die Speiseröhre der Blauwale so eng ist, dass sie an einem Leib Brot ersticken könnten? Diese Riesentiere sind eindeutig nur dafür gebaut, ganz kleine Dinge zu essen. Wer das nicht faszinierend findet, den verstehe ich nicht.