Ab diesen Sommer müssen die öffentlichen E-Busse in Oberhaching bei München nachts nicht mehr an die Steckdose. Bürgermeister Stefan Schelle nutzt die Tatsache, dass eine innovative Firma ihren Sitz in seiner Gemeinde hat: Magment, kurz für »magnetisierbarer Zement«. Sobald die Firma in den nächsten Monaten ihr induktives Ladesystem am Oberhachinger Bahnhof Deisenhofen und im städtischen Busdepot im Boden installiert hat, werden sich die Busse dort wie von Geisterand aufladen, ganz ohne Kabel.
»Das funktioniert wie ein Induktionsherd oder wie wenn Sie Ihr Handy auf eine Ladeplatte legen«, erklärt Firmengründer Mauricio Esguerra, 60, und stellt in seinem Büro im Oberhachinger Gewerbegebiet zu Demonstrationszwecken ein Modellauto auf eine kleine Ladefläche: Die Lichter des Mini-Porsches blinken nur, wenn er direkt darauf steht. »Die Leute müssen also keine Angst vor Magnetfeldern oder sowas haben«, beruhigt der gebürtige Kolumbianer. »Tiere oder Menschen können einfach darüber gehen, ohne dass irgendetwas passiert. Die Induktion wird erst aktiviert, wenn der Empfänger-Akku direkt darüber liegt.« Der »magnetisierbare Beton«, an dem Esguerro das Patent hält, »richtet« die elektrische Ladung dann zielgenau nach oben. Der Empfänger befindet sich in einer Box an der Fahrzeug-Unterseite; die Oberhachinger Busse werden gerade mit solchen Empfängern nachgerüstet. »Schauen Sie, da fährt so einer«, sagt Esguerro begeistert, als einer der blauen Stadtbusse vor dem Fesnter vorbeizieht.
Esguerra stammt aus Bogota, studierte an der TU München Physik, verliebte sich in eine deutsche Frau, mit der er eine Familie gründete, und blieb. 15 Jahre lang arbeitete er für Siemens an magnetischen Produkten und entwickelte dort auch den magnetisierten Beton. Das Patent gehörte anfangs natürlich Siemens, aber zu der Zeit war Elektromobilität noch weitgehend Zukunftsmusik. »Siemens wusste mit der Erfindung nicht wirklich viel anzufangen«, sagt Esguerra. »Damals gab es ja noch kaum elektrische Fahrzeuge, und Start-ups waren auch weitgehend unbekannt.« Zwischendurch wechselte er zu anderen Firmen, aber 2015 machte ihm Siemens ein Angebot. Das Patent laufe aus, Siemens wollte es eigentlich nicht aufrecht erhalten – ob er, als Urheber, es vielleicht zurückhaben wolle? »Ich zögerte keine Sekunde«, sagt Esguerra lächelnd. »Ich bin von Herzen Magnetiker.« So gründete er 2015 Magment.
Entscheidend für die Technik sind Ferrite, also metallene Werkstoffe, die im wesentlichen aus Eisen-, Nickel- und Zinkoxid bestehen und normalem Zement beigemischt werden können. Esguerra öffnet den Deckel eines Plastikeimers mit grauem Zementpulver, um das Ausgangsmaterial zu zeigen. In Beton eingegossen, schaffen Ferritkerne ein Magnetfeld, das den Strom drahtlos zum Fahrzeug transportiert. »Dazu müssen Sie wissen, dass Ferrite eine extrem hohe Ausschussrate von sieben Prozent haben,« sagt Esguerra. »Das ist wie bei gängiger Keramik: Sobald ein Sprung oder Riss drin ist, wird das aussortiert. Wir reden von knapp 500.000 Tonnen Ausschuss pro Jahr weltweit. Das heisst, es gibt ganze Berge von ungenutztem Material.«
Dieser Umstand war einst der Ausgangspunkt seiner Forschung bei Siemens: »Was macht man bitte mit diesem energieintensiven Material? Es wurde damals für den Straßenbau zerkleinert, mitgemischt und als Zuschlag verkauft, also ohne Funktion.« Auch heute kann das Magment-Material einfach normal verbaut werden, »komplett nach den gängigen Methoden und mit dem Equipment der Betonindustrie«, wie Esguerra betont. »Das hat für uns den Vorteil, dass wir keine eigenen Fabriken aufziehen müssen und auch keine hohen Transportkosten entstehen. Wir bringen die Technologie in die Regionen, wo das Konzept umgesetzt wird.« Seit Anfang diesen Jahres hat Magment eine strategische Partnerschaft mit Holcim, dem drittgrößten Baustoffproduzent der Welt. Einen Nebeneffekt haben die Ferrite allerdings doch: Sie machen den Beton stabiler und länger haltbar. Durch das Recycling spart diese Technologie also auch noch Ressourcen, vor allem CO2.
Wie aber kommt der Strom in den Boden? Im Nebenzimmer wickelt der Praktikant gerade Kabel um eine neue Spule. Solche Spulen werden in den Boden eingelassen und an das Stromnetz angeschlossen. Das Ganze wird später von dem magnetisierbaren Beton umschlossen, der den Strom aus den Spulen weiterleitet. Der Empfänger sieht ähnlich aus, ebenfalls eine Spule, aber kleiner, und wird in einer Metallbox an die Unterseite des Autos, Busses oder Scooters montiert. Bei einem Auto wäre die Box etwa 25 mal 25 Zentimeter groß, bei einem Scooter nur 5 mal 5 Zentimeter.
Anfangs konzentriert sich Magment nicht auf Elektroautos, sondern auf E-Scooter, Gabelstapler und Busse, also relativ überschaubare Systeme
Esguerra schiebt einen Elektro-Scooter in einen betonierten Radhalter im Nebenzimmer seines Büros. Die im Halter eingelassene Spule sieht man nicht. Ein leises Piepsen ist das einzige Zeichen, dass der Scooter ab jetzt geladen wird. »Ein Kinderspiel!« sagt Esguerra mit sichtlicher Freude. »Selbst wenn der Scooter etwas schräg abgestellt wird, funktioniert es immer noch. Der Wirkungsgrad liegt bei bis zu 96 Prozent!« Ab diesem Sommer werden Hotelketten in München das System mit ihren Leih-Scootern ausprobieren, zum Preis von etwa 500 Euro pro Scooter-Ladestation. Den Kunden wird elektronisch angezeigt, welcher Scooter voll geladen und fahrbereit ist.
Die Vorteile: Die Fahrzeuge brauchen kleinere Batterien und laden sich langsamer und schonender. Niemand muss die Fahrzeuge manuell einstöpseln. »Wie oft«, sagt Esguerra, der selbst privat seit sechs Jahren ein Elektroauto fährt, »habe ich schon vergessen, das Auto abends anzuschließen und fahre morgens mit einer halbleeren Batterie los?«
Die Nachteile: Die meisten Fahrzeughersteller sind auf die neue Technologie noch nicht vorbereitet. Als erste Autofirma hat Hyundai angekündigt, einige Modelle künftig mit Induktionslademöglichkeit auszustatten. »Wie viele Autos sind elektrifiziert?», fragt Esguerra rhetorisch und gibt selbst die Antwort: »Ein Prozent. Und wie viele Gabelstapler sind elektrifiziert? Über 70 Prozent!« Deshalb konzentriert sich Magment anfangs nicht auf Elektroautos, sondern auf E-Scooter, Gabelstapler und Busse, also relativ überschaubare Systeme. Wie immer bei einer neuen Technologie werden sich manche Tücken wohl auch erst in der Praxis zeigen, weshalb Investoren anfangs vorsichtig waren, wie Esguerra zugibt. »Manche wollen unbedingt die ersten sein, aber die meisten warten erst einmal ab, wie sich etwas in der Praxis bewährt.«
An diesem Morgen ist ein Entwickler des weltweit drittgrößten Gabelstaplerherstellers zu Gast, der sich das Konzept in der Praxis vorführen lässt. Magments Ingenieur fährt den elektrischen Gabelstapler auf der kleinen Probestrecke im Keller über die einbetonierten Induktionsspulen; ein Leuchten signalisiert, wenn die Batterie geladen wird. Esguerra öffnet den Innenraum des Gabelstaplers und zeigt auf die beiden Batterien: »Mit unserem System wird eine der Batterien eingespart; der Gabelstapler braucht dann nur noch eine statt zwei.« Die Kostenersparnis, circa 7000 Euro, bezahlt die Installation des Induktionssystems, damit rentiert sich das System fast von Anfang an. Weitere Ersparnisse, etwa weniger Personalaufwand und keine unnötigen Wartezeiten mehr, weil das Fahrzeug erst noch laden muss, sind zu erwarten. Ideal wäre das System nach Esguerras Meinung auch für Roboter, etwa in Amazon-Lagerhallen.
Seine Firma mit 18 Mitarbeitern, die von Oberhaching bis San Diego und Indiana verstreut sind, hat er bewusst zur Hälfte mit Ingenieuren und zur Hälfte mit Vertrieblern besetzt. »Wir wollen keine Lösung bauen, die ein Problem sucht«, sagt er, »sondern gleich unmittelbar einsetzbare Systeme liefern.« Die Ursprungserfahrung mit Siemens sitzt ihm da wohl noch im Nacken.
Ganze Autobahnen mit den Induktionsspulen zu elektrifizieren, wäre bei einem Kilometerpreis zwischen 1 bis 2,5 Millionen Euro allerdings viel zu teuer. Das Bundesverkehrsministerium kalkuliert gar mit Gesamtkosten um 14 bis 47 Millionen Euro pro Kilometer. Sinn macht es dagegen an den Stellen, wo Fahrzeuge häufig halten oder fahren, wie in Oberhaching eben am Bahnhof.
Und doch geht Magment bald auf die Straße. Im kalifornischen Antelope Valley fahren bereits induktiv ladende Busse mit dieser Technologie, und in Indiana wird gerade die erste Teststrecke gebaut. »Die ersten 20 Meter direkt an der Uni sind vor drei Wochen fertig geworden«, sagt Esguerra über die Partnerschaft mit der Purdue Universität, dem Verkehrsministerium von Indiana und ASPIRE (Advancing Sustainability Through Powered Infrastructure for Roadway Electrification). Die National Science Foundation wird das Projekt finanzieren. Im Nachbaarstaat Michigan wird ebenfalls eine Pilotstrecke gebaut, allerdings von der aus Israel stammenden Konkurrenz-Firma Electreon, die auch bei Ulm bereits eine Teststrecke konstruiert hat.
Die amerikanische Firma Wave hat bereits einige Jahre Straßenerfahrung, denn ihre Induktionstechnologie steckt schon in den Bussen im Antelope Valley, in den Shuttles der Universal Studios in Hollywood und dem Hafen von Long Beach. Auch die Oberhachinger Busse sollen mit der Technologie des Unternehmens fahren. Wenn man bei Wave nachfragt, bestätigt der CTO Michael Masquelier, dass eine langfristige Kooperation geplant ist.
Esguerras Vision ist, dass Mautstrecken einmal dafür einen Aufpreis verlangen werden, dass man sein E-Auto auf dieser Strecke induktiv laden kann. »Umgekehrt kann ein Autofahrer, der zuviel Energie hat, seinen Extrastrom ins Netz einspeisen und damit Geld verdienen«, sagt er. Klar ist allerdings: «Die ganze Elektrifizierung als Infrastrukturmaßnahme ist aufwendig und anspruchsvoll.»
Einen Vorgeschmack davon bekommen die Kurbesucher in Bad Staffelstein, wenn sie demnächst von fahrerlosen Shuttle-Bussen abgeholt werden. Zusammen mit der Bergischen Universität Wuppertal will die bayerische Landesregierung Oberfranken nämlich »zum Zentrum für autonomes Fahren machen«. Magment wird induktive Ladestellen am Shuttle-Bahnhof und vor der Therme einlassen, und die Minibusse werden die Kurgäste dann wie von unsichtbarer Hand gelenkt hin- und her transportieren. Auch Masquelier von Wave sagt: »Kabelloses und fahrerloses Fahren gehen Hand in Hand.« Keine Fahrer mehr, keine Kabel, keine Ladezeiten. Zukunftsmusik? Ab Frühjahr 2023 Realität.