Bei den »Goodfellas« denkt man ja als erstes an Kokain, Robert de Niro und tote Gangster im Kofferraum. Aber die Friseure im »Goodfellas Barbershop« in Little Rock, Arkansas, sind tatsächlich »gute Fellas« - im Wortsinn. »Wie geht's dir?«, fragt Lorenzo Lewis einen jungen Kunden, während ihm ein Mitarbeiter die Koteletten rasiert. Das ist noch nicht überraschend, die Frage stellen viele Friseure ihren Kunden, und viele von ihnen antworten darauf: »Gut, gut«. Aber dann fängt das Gespräch an, sich von einem normalen Friseurplausch zu unterscheiden: »Mmmm, mir ist aufgefallen, dass du in letzter Zeit recht angespannt wirkst«, hakt Lewis nach. So lange, bis der Kunde schließlich zugibt, dass er gerade eine richtig schwierige Phase durchmacht. »Denkst du an Suizid?«, fragt Lewis. Der Kunde nickt.
Lorenzo P. Lewis, 30, ist der CEO von »The Confess Project«, übersetzt: Bekenntnis-Projekt. Er hatte vor knapp drei Jahren eine Idee, die er nun in Friseurläden, Schulen und Universitäten trägt: Wenn sich gerade diejenigen, die am meisten psychisch gefährdet sind, nicht in eine Therapeuten-Praxis wagen (oder sich keinen Therapeuten leisten können), warum dann nicht das Therapeuten-Gespräch in die Läden bringen, wo sich die Zielgruppe den Bart rasieren oder einen Kaffee kochen lässt?
Lewis bildet Hunderte von Friseure darin aus, frühe Warnsignale bei psychisch gefährdeten Menschen zu erkennen, unterstützende Gespräche zu führen und sie gegebenenfalls über weiterführende Therapieangebote, Selbsthilfegruppen und Ressourcen zu informieren. Für die Rasur zahlen die Männer die übliche Gebühr, das Gespräch gibt es gratis dazu. Dass sich die Initiative besonders an afroamerikanische Männer und Jugendliche richtet, hat einen Grund: Sie haben in Amerika überdurchschnittlich häufig Gewalt erlebt, sind nachweislich überdurchschnittlich oft traumatisiert und suchen gleichzeitig besonders selten Hilfe. »Die fressen alles in sich rein«, sagt Lewis. »Bis es irgendwann nicht mehr geht.«
Lewis weiß das aus eigener Erfahrung: Er wurde im Gefängnis geboren und sagt, er habe schon als Kind mit Wut und Depression gerungen. »Ich fühlte mich ganz allein auf der Welt, als würde das ganze Gewicht der Welt nur auf meinen Schultern lasten.« Weil seine Mutter im Gefängnis und sein Vater tot war, wuchs er im Friseur- und Beautyladen seiner Tante auf: »Das war meine Zuflucht, da gab es immer Leute zum Reden.« In der dritten Klasse habe ihn ein Lehrer einmal gefragt, warum er weine. »Ich vermisse meinen Vater«, sagte der damals Achtjährige. Die Antwort des Lehrers: »Toughen up! Sei ein Mann!« Das war die Maxime, mit der Lewis aufwuchs: Bloß keine Schwäche zeigen. Er lebte seinen Frust in einer Gang aus, bis ihn Freunde überredeten, sich Hilfe zu suchen. Es war vor allem ein Barbier im Laden seiner Tante, dem er sein Herz ausschütten konnte und der ihn dazu brachte, professionelle Unterstützung anzunehmen. »Ich war auf dem besten Weg in den Knast. Die Therapie hat mein Leben umgekrempelt«, erzählt Lewis. So sehr, dass er sich selbst in Suizidprävention ausbilden ließ und die letzten neun Jahre in einer Einrichtung für gefährdete Kinder und Jugendliche arbeitete.
Nur zweieinhalb Prozent der amerikanischen Psychotherapeuten sind schwarze Männer
Fast zwei Drittel der Männer sagen, sie würden viel eher zu einem Therapeuten im Friseursalon gehen als in eine Therapie-Praxis - weil beim Friseur nicht nur Haare, sondern auch (Rede-)Hemmungen fallen. Dass sich Männer lieber auf den Friseurstuhl setzen als auf eine Therapeuten-Couch legen, hat noch einen anderen Grund: Nur zweieinhalb Prozent der amerikanischen Psychotherapeuten sind schwarze Männer. Was liegt da näher, als mit den Haaren auch das Selbstbewusstsein zu frisieren?
Zum Friseur gehen wir ohnehin regelmäßig. Und wir vertrauen ihm oder ihr manchmal Dinge an, die unsere besten Freunde nicht wissen. Wenn er oder sie dann mit therapeutischer Weisheit und konkreten Ressourcen antworten könnte statt mit dem üblichen Ladentratsch, wäre viel gewonnen. Die Salon-Psychologie kann natürlich keine intensive, langfristige Therapie ersetzen. Aber tatsächlich geben die Erfolge Lorenzo Lewis Recht. Stolz erzählt er von einem Kunden, der mitten in einer schwierigen Scheidung steckte und erst durch das Salongespräch erkannte, dass er alle Symptome einer veritablen Depression zeigte und sich in Therapie begab. Andere gestehen Alkoholprobleme oder Angst. Lewis Ziel: »Nicht darauf warten, bis etwas passiert, sondern proaktiv sein.« NAMI, die renommierte amerikanische National Alliance on Mental Illness, unterstützt und bewirbt das Projekt.
Seit das Pilotprojekt in Little Rock so erfolgreich ist, haben es andere Barbiere nachgemacht, unter anderem in Kentucky, Tennessee, South Carolina, Atlanta und New Orleans. Und anders als bei den meisten Friseuren garantieren diese Haarkünstler Verschwiegenheit. Lewis sieht die Friseursalons als »safe space«, als Ort, wo Menschen in Krisen hingehen können, um sich auszusprechen. Manchmal setzt er sich oder den Kunden sogar eine Maske auf – und wartet, bis ein Mann bereit ist, die Maske abzunehmen »und sein wahres Gesicht zeigt – wie es ihm wirklich geht«.
Obwohl das Projekt sich vor allem an Männer richtet, profitieren auch Frauen. Keshara Richardon, die als Stylistin bei Kuts Unlimited in New Orleans im Laden ihres Bruders arbeitet, erzählt von ihrem eigenen Trauma: Mit 25 wurde sie Zufallsopfer einer Schießerei und bekam sechs Kugeln in den Bauch. »Im Laden öffnen wir die Türen für alle und schaffen einen Raum, in dem man über alles reden kann.«
Andere Initiativen haben die Idee inzwischen auf Cafés, Bibliotheken und auch andere Themen ausgeweitet. Das Café »Sip of Hope« in Chicago hat die Baristas extra darin ausgebildet, suizidgefährdete Kunden zu erkennen und ihnen mit dem Latte eine andere Perspektive zu servieren. Die Erlöse des Cafés gehen zu 100 Prozent in die Suizidprävention. Das »Black Barbershop Health Outreach Program« im kalifornischen Inglewood hat sich der Gesundheits-Vorsorge verschrieben und prüft nicht nur Seitenscheitel, sondern auch den Blutdruck. Büchereimitarbeiter in Sacramento haben freiwillig psychologische Schulungen absolviert, um den vielen Obdachlosen besser helfen zu können, die oft in der Bibliothek Zuflucht suchen. In Duluth, Minnesota, wirbt die ganze Stadt dafür, dass sich Geschäftsinhaber schulen lassen, um Kunden mit Demenz besser zu unterstützen.
Jetzt geht Lorenzo Lewis mit seinem Projekt auf Tour. Sein Slogan könnte sowohl auf Salons als auch auf Therapie passen:»„One size does not fit all.« Also: Nicht alle über einen Kamm scheren. Die SZ hat gerade erst darüber berichtet, dass es in manchen Straßen inzwischen ein Dutzend Friseursalons gibt. Das wäre dann der »Unique Selling Point«, das ideale Alleinstellungsmerkmal für Friseure und Cafébesitzer: Gratis zum Bürstenschnitt oder Espresso eine Portion Hoffnung. Bitte einmal Waschen, Föhnen, Reden.