Bauchgefühl

Ihr Studium absolvierte sie mit Bravour, ihr Professor riet ihr sogar zur Promotion. Doch dann erinnerte sich unsere Kolumnistin, die Hebamme, an zwei Erlebnisse in ihrer Kindheit und änderte ihr Leben für immer.

Illustration: Cynthia Kittler

Als mir neulich bei einem Hausbesuch im Westen der Stadt zum ersten Mal der Vater des kleinen Ben aufmachte und nicht wie sonst seine Mutter, traf mich der Schlag, ich wuchs versteinert an der Fußmatte fest. »Äh, hallo, Maja Böhler, ich bin die Hebamme«, stammelte ich. »Michael W., freut mich.« Wir schüttelten uns die Hand und, ich war froh, mich kurz festhalten zu können, denn auf meine Knie war gerade kein Verlass.

Irgendwoher kannte ich ihn! Nur woher? Mein Hirn ratterte. Der Mann einer ehemaligen Patientin? Jemand, den ich mal im Dunkeln geküsst habe? Ein altgewordener Kinderstar aus einer Fernsehserie? Ich kam nicht drauf. Sein Name kam mir bekannt vor, aber warum? Als Herr W. ins Bad ging, um Windeln zu holen, linste ich in den Mutterpass. Da stand noch eine alte Adresse – die Familie hatte bis vor kurzem in meiner Heimatstadt gelebt.

»Sie sind noch nicht lange in der Stadt, oder?«, rief ich investigativ den Flur entlang. »Nein, wir sind erst in der Schwangerschaft hergezogen.« – »Berufliche Gründe?« – »Ja, ich habe hier einen Ruf als ...« Das war's! Ich kannte ihn aus meinem ersten Leben! Er war mein Dozent gewesen, als ich noch Jura studierte. Daher das seltsame Ziehen in meiner Brust.

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Wenn ich mich heute, fünfzehn Jahre später frage, warum ich überhaupt mit dem Fach angefangen habe, sind die Gründe genauso schwer auseinander zu fieseln wie das Kopfhörer-Haargummi-Knäuel am Boden meiner Handtasche.

Da war meine ältere Schwester, die Medizin studierte, mein eigentliches Traumfach – ich war der Meinung, etwas anderes wählen zu müssen, um nicht in ihrem Schatten zu stehen; da war ein anerzogenes Sicherheitsdenken und meine Vernunft, die mir sagten, mit einem guten Abi nicht zu studieren, sei bescheuert. Da war der Mensch in der Berufsberatung, der mir versicherte, mit Jura könne ich »später alles machen«. Und da war – ich geb's zu – auch eine sexy Vorstellung von mir in Robe. Danke, Ally Mc Beal.

Nach dem Studium schmolz das »Alles«, das ich angeblich mit Jura machen konnte, bedenklich zusammen. Denn jedes Praktikum verdeutlichte mir vor allem, was ich nicht machen wollte. Ich entwickelte sogar körperliche Aversionen: Bei einem Aushilfsjob in einer Anwaltskanzlei ging es soweit, dass ich im Moment, als ich abends heimkam, den Hosenanzug ausziehen und duschen musste, ganz so, als hätte ich tagsüber nicht Akten studiert, sondern niedliche Lämmer geschlachtet.

Kurz nach dem schriftlichen Examen waren meine Zweifel so groß, dass ich mich einer Kommilitonin anvertraute, Franzi hieß sie. Wir hatten sehr gute Noten, der Professor (nicht Herr W., ein anderer) hatte uns sogar gefragt, ob wir nicht promovieren wollten. Als ich ihr erzählte, dass ich überlegte, nach der mündlichen Prüfung Jura aufzugeben und eine Ausbildung anzufangen, sagte sie den Satz, den ich bis heute nicht vergessen habe: »Maja, mach das nicht. Du wirfst dich weg.«

Vielleicht war das der Moment, in dem ich es erst richtig wollte. Ein paar Tage später sagte ich dem Professor ab, und auf seine Frage, was ich anstelle der Diss. zu tun gedenke, sagte ich stolz und siegesgewiss: »Ich werde Hebamme.«

Schon immer hatte ich diese wunderliche Faszination für Schwangere. Meine Mama hat mir früher immer erzählt, wie sie mich als Kleinkind ermahnen musste, schwangere Frauen nicht so unverhohlen anzustarren. Es sei nicht der staunende Blick gewesen, den Kinder nunmal so haben, erzählte sie mir. Sondern der von Verliebten.

Mir fiel auch meine Kindergärtnerin, Frau Sommer, wieder ein, die sich hochschwanger einmal über uns Kinder gebeugt hat. Ich kann mich an diesen Moment bis heute erinnern: Erst duckte ich mich unter ihr weg und dann berührte ich mit der Nasenspitze den prallen, riesigen Bauch und war: von Sinnen. Das ist eine der frühesten Erinnerungen, die ich überhaupt im Leben habe.

Mir war, als wäre eine zweite Sonne in meinem Leben aufgegangen. Nach der Absage beim Prof und dem kollektiven Kopfschütteln am Lehrstuhl (inklusive von Herrn W.) ging alles ganz schnell: Ich rief die Beleg-Hebamme bei uns in der Kleinstadt an und fragte, ob ich ein Praktikum bei ihr machen konnte. Vom ersten Tag, an dem ich mit ihr unterwegs war, wusste ich: das und nichts anderes.

Sie war eine wunderbare Lehrerin. Obwohl es nicht ihre Aufgabe war und ich als Praktikantin eigentlich nur Handlanger-Tätigkeiten machen konnte, brachte sie mir in der kurzen Zeit so vieles bei: wie man durch Abtasten herausfindet, wie das Baby im Bauch liegt. Wie man mit den Frauen spricht. Wie man ihre Schmerzlaute zu unterscheiden lernt. »Ist sie nicht unglaublich, diese Schönheit und archaische Kraft von Schwangeren?«, sagte sie einmal zu mir. Endlich fasste jemand in Worte, was ich mein ganzes Leben schon empfand.

Als ich wenige Tage später mit ihr meine erste Geburt sah, war ich so geflasht, dass ich eine ganze Nacht nicht schlafen konnte, ich schwamm in Adrenalin. Dabei war es, wie ich heute weiß, keine »schöne« Geburt. Viel Blut, Saugglocke, Riesenschreierei. Aber echtes Leben. Unfassbar viel davon.

Heute weiß ich: Nicht jeder Tag als Hebamme ist aufregend, der Beruf erfordert auch unglaublich viel Papierkram und PC-Arbeit. Und natürlich denke ich manchmal an meine ehrgeizigen Kommilitonen, an die Gehälter, die sie heute kassieren, und ja, auch an Franzis Vorwurf. Ich bin eben meinem Herzen gefolgt, dafür arbeite ich heute mit Herzblut. Ich habe eine Karriere weggeworfen, dafür habe ich mich gefunden.

»Alles ok bei Ihnen?«, fragte Herr W. und holte mich aus meinen Gedanken. »Jaja, ich habe nur an früher gedacht.« – »Das müssen aber schöne Gedanken gewesen sein«, sagte Herr W.

Ich grinste. »Naja, Sie kommen auch darin vor.«

Jetzt erschrak Herr W., wuchs am Fußboden fest – und ich genoss den Moment, bis ich ihm alles erzählte.