»Es ist....ja doch, jetzt ist es gerade etwas unangenehm.« Frau S. war die härteste Patientin, die ich je hatte. Sie war seit etwa sieben Stunden unter Geburt, die Eröffnungsphase war inzwischen abgeschlossen, das ist jene Zeitspanne, die Frauen oft am schmerzhaftesten empfinden. Jetzt war sie unter Presswehen, also in jener Phase, über die im Nachhinein so schöne Vergleiche fallen wie:
»Ich kam mir vor, als würde ich eine Kokosnuss kacken«
»Einen Fußball«
»Eine Honigmelone«
»Es fühlt sich an wie die schmerzhafteste Verstopfung deines Lebens«
»Mir kam es vor, als wären es drei Babys«
»Sich tätowieren lassen, ist nichts dagegen«
Frau S. empfand offenbar nichts von alledem, sie war: die Ruhe selbst. PDA hatte sie keine gewollt und während der gesamten Zeit auch andere Schmerzmittel nicht gebraucht. Sie stand leicht gebeugt neben dem Kreißsaal-Bett. Wenn eine Wehe kam, hielt sie sich kurz an der Sprossenwand fest – wie eine Windsurferin an ihrem Segel – und wackelte ein wenig mit dem Becken.
Warum, frage ich mich oft, empfinden Frauen Schmerzen so unterschiedlich? Klar, es gibt kulturelle Prägungen. Je näher Richtung Äquator desto intensiver ist die Schmerzäußerung – mag ein Klischee sein, deckt sich aber mit der Erfahrung bei uns im Team. An manchen Tagen kreischt, stöhnt und hechelt es jedenfalls in mehreren Tonlagen aus unseren fünf Kreißsälen. Profis könnten Wetten abschließen und Nationalitäten zuordnen.
Die Betreuung spielt auch eine Rolle: Frauen sind oft stärker schmerzbelastet, sobald sie mit ihrem Mann alleine im Kreißsaal sind. Liegt aber nicht am Mann, sondern weil es eben hilft, wenn man professionell unterstützt wird. Manchmal kann ich gar nicht glauben, dass es sich um »meine« Patientin handelt, wenn ich mal kurz rausgehe. Bei einer intensiven, zugewandten Betreuung brauchen die Frauen jedenfalls nachweislich weniger Schmerzmittel.
Jetzt wurde Frau S.s Atem etwas heftiger, vielleicht würde ihr ja jetzt, wo das Köpfchen des Babys ins Becken drückte, ein zartes »Au« entfleuchen. Doch noch bevor die Wehe vorbei war, nahm sie den Faden ihres Gesprächs wieder auf und erzählte die zuvor begonnene Story aus ihrem letzten Urlaub zu Ende. Ich schüttelte staunend den Kopf. Ich hatte ja schon viel gesehen und weiß, dass nicht alle Frauen eine Geburt als gleich schmerzhaft empfinden, aber diese Coolness verblüffte mich.
»Wundern Sie sich nicht«, sagte ihr Mann, der meine Gedanken zu erraten schien, »neben dieser Frau fühle ich mich oft wie ein Weichei. Letztes Jahr lief sie aus dem Stand einen Marathon. Sie hatte nicht mal Muskelkater danach.« Frau S. grinste. Schmerz ist immer ein Zusammenspiel aus Körper und Psyche, aber wie viel man aushält, ist kein persönliches Verdienst und genauso wenig ist es planbar.
Der beste Beweis dafür ist meine Freundin V., selbst Hebamme. Sie hatte sich bei ihrem zweiten Kind eine Hausgeburt gewünscht. Ohne Schmerzmedikation, wie bei Hausgeburten üblich.
Wir Kolleginnen hatten ihr zugesprochen und wochenlang kein anderes Thema gehabt: Klappt das jetzt mit der Hausgeburt? Ist V.s Baby schon auf der Welt? Bei ihrem ersten Kind, das sie in der Klinik bekommen hatte, war es ihrer Beschreibung nach zwar intensiv und bei weitem kein Kinderspiel gewesen, aber sie hatte es durchgestanden. Die zweite Geburt wird ja oftmals leichter. Daher waren wir – genau wie V. – sicher, dass sie als Profi am besten einschätzen konnte, was auf sie zukommen würde: Was man beachten muss, etwa an Risiken. Aber auch, welche Positionen und Atemtechniken die Wehen am besten erträglich machen.
Doch ihre Geburt lief ganz anders als geplant. Kurz vor dem errechneten Termin rief sie bei uns an. »Es geht nicht mehr. Ich kann nicht mehr« sagte sie aufgelöst und schmerzverzerrt. »Ich bin auf dem Weg zu euch.« Sie weinte, aber wie sich herausstellte nicht nur wegen der Wehen. Sie hatte von zuhause aus zunächst jenes Krankenhaus kontaktiert, das nur 15 Minuten von ihrem Heimatort entfernt war. Es war Montag Vormittag, beste Kinderkrieg-Zeit sollte man meinen, doch am Telefon hatte man ihr gesagt, dass die Geburtshilfe um 12 Uhr schließen würde und dass man einen Kaiserschnitt machen würde, wenn das Kind bis dahin nicht geboren sei. »Nur weil es Ihnen zeitlich besser passt, lass ich mich bestimmt nicht aufschneiden!«, hat V. daraufhin ins Telefon gebrüllt und aufgelegt. Ihr Freund fuhr sie daraufhin eine Stunde lang durch den Berufsverkehr bis zu uns in die Klinik, da der Rettungswagen sich weigerte, sie das weite Stück zu fahren, wo doch das andere Krankenhaus viel näher lag. Eine Maria-und-Josef-Situation, wie sie bei den vielen schließenden Kreißsälen und Geburtsstationen immer mehr Paare erleben.
Als V. eintraf, sah ich ihr an, wie erleichtert sie war, uns zu sehen, und gleichzeitig unendlich geknickt, weil sie sich alles so anders vorgestellt hatte. Ich streichelte ihren Arm, während die Ärztin ihr die PDA legte. Kurze Zeit später entspannten sich ihre Gesichtszüge und dann ihr ganzer Körper. Mit wieder gewonnener Kraft und in Riesenschritten ging es dann dem Finale entgegen. Aus der ruhigen, intimen Hausgeburt war eine Krankenhaus-Geburt geworden, bei der draußen vor dem Kreißsaal zehn Kollegen mitfieberten. Eines wussten wir dabei alle: Der Satz man »müsse »es« »nur« »genügend« »wollen« war seit heute Geschichte. Niemand hatte es so gewollt wie unsere Kollegin.
Als Frau S., die Marathon-laufende Wonder Woman, die Position wechselte, holte mich das aus meinen Gedanken: Sie war in die Hocke gegangen und ertastete nun mit der Hand die Schädeldecke des Babys zwischen ihren Beinen, als ihr Mann mit einem Mal blass aus dem Zimmer stolperte. »Vielleicht kann jemand mal nach ihm sehen?«, sagte Frau S. »Ich schaff das hier schon.«