Die junge Frau war nun seit zweieinhalb Monaten bei uns, das war Rekord. Inzwischen wölbte sich ihr Bauch unter ihrem Nachthemd. Als sie völlig entkräftet eingeliefert worden war, per Rettungswagen und stark nach Erbrochenem riechend, war sie erst in der 10. Woche gewesen.
Sie litt unter Hyperemesis gravidarum, Bunte- und Galaleser wissen: Das ist das, was Prinzessin Kate hatte. Unstillbares Schwangerschaftserbrechen. Es ist, man kann es nicht anders sagen, die Hölle. Die 23-Jährige erbrach einfach alles, was sie zu sich nahm. Manchmal reichte es auch, wenn die Schwester das falsche Parfum trug. Oder es auf dem Flur nach Linsen roch: zack, würg, Pfütze am Boden.
Eh schon von schmaler Statur, sah sie damals aus, als wolle sie sich für die nächste Staffel »The Walking Dead« bewerben. Ausgemergelt, blass, der Mund ein Strich, die Augen tief in ihren Höhlen. Ihre Haut war wie bei älteren Menschen so trocken, dass sie stehen blieb, wenn man sie verschob. Zumindest hatte sie, seit sie bei uns war, nicht noch mehr abgenommen. Sich an den Infusionsständer klammernd, sah ich sie Tag für Tag über die Flure schlurfen, um ihren Kreislauf in Gang zu halten. Unser kleiner Haus-Geist.
Wir konnten nicht viel machen, über einen Zugang erhielt sie Flüssigkeit und Vitalstoffe, auch Medikamente gegen das Erbrechen, wir betreuten sie engmaschig, und ihre Mutter und ihr Freund brachten ihr die wenigen Sachen, die sie essen konnte (und wollte) von außerhalb mit. Reiswaffeln, Doppelkekse, Bananen.
Früher glaubte man irrtümlich, die Hyperemesis habe psychosomatische Ursachen. Heute weiß man, die Ursache liegt vor allem in der Hormonumstellung im Körper, der Hauptauslöser ist der Anstieg des humanen Choriongonadotropin, kurz hCG. Dieses Hormon hat die Aufgabe, die Schwangerschaft zu erhalten, es steigt von 2 IE pro Liter Blut (so viel haben auch Männer und Nicht-Schwangere) auf ein Tausendfaches an. Manche erfasst es wie ein Tsunami, manche wie ein heftiges Gewitter und für andere ist dieser Hormonschub nur wie eine Woche Dauerregen.
Freut sich jemand, der jeden Tag stundenlang über der Schüssel hängt, auf sein Kind, frage ich mich immer. »Die Kleine kann ja nichts dafür«, sagte Frau S. irgendwann, als sie sich nach einigen Wochen nur noch ein bis zwei Mal pro Tag erbrach, »aber ich bin ehrlich: Die Schwangerschaft soll einfach nur vorbei sein.« Da war sie in der 21. Woche – long way to go. Es gibt Fälle, da sind die Schwangeren so verzweifelt, dass sie das Kind abtreiben wollen.
Bei den wenigsten Frauen sind die ersten Wochen so extrem, und wenn, hat es meist nach dem ersten Trimenon ein Ende. Ich dachte an meine Freundin Sarah, die vor einem Jahr erfahren hatte, dass sie schwanger war. Es hatte sie auch ziemlich aus der Bahn geworfen – weniger körperlich als emotional. Ich weiß das noch so genau, weil wir kurz zuvor auf einer Mehrtages-Wanderung gewesen waren und sie währenddessen ihre Tage bekommen hätte sollen (Ihr Murmeln von »Es kann nicht sein, es kann eigentlich nicht sein« war zum Soundtrack dieser Reise geworden). Klingt für Kinderlose vielleicht komisch, aber obwohl Sarah einen aktiven Kinderwunsch gehabt und mit ihrem Freund nicht mehr verhütet hatte, war sie nach unserer Rückkehr regelrecht geschockt gewesen, als das Stäbchen »positiv« anzeigte.
»Ich hab den Test erstmal zwei Tage im Schrank versteckt«, hatte sie mir damals am Telefon erzählt. »Zwischen Bettwäsche und Handtüchern, wo ihn niemand finden würde.« Ich musste lachen über diese bestechende Logik: Ist das Beweisstück erstmal vernichtet, kann man weitermachen wie bisher. Die Geschichte beschreibt gut das Gefühlsremmidemmi, von dem mir viele Frauen erzählen, wenn sie erfahren, schwanger zu sein. Meistens allein in einer Toilette, ungläubig auf einen vollgepinkelten Hormontest starrend.
What? Hilfe! Juhu! Was heißt das jetzt? Endlich schwanger! Wie, jetzt schon? Muss ich gleich zum Arzt? Vielleicht geht es noch ab? Hoffentlich geht es nicht noch ab! Heute Abend ist eine Party – ich wollte doch was trinken! Wie sage ich es meinem Partner? Was wird der Chef sagen?
Erst ein Stück Plastik, später die Bestätigung von Arzt oder Hebamme und mit einem Mal schwingt das Leben in einem anderen Takt. Steht das Tor zu einer anderen Dimension offen. Man muss nur noch hindurch treten. Aber was heißt hier »nur noch«? Aus erster Person Singular wird erste Person Plural.
Und der Körper rafft das schneller als der Kopf: Hardcore-Raucherinnen ekeln sich schlagartig vor Zigaretten. Rotwein-Schleusen behaupten felsenfest, der Wein sei »gekippt«. Die Couch und das Bett üben magische Anziehungskräfte aus, der BH wird zu eng. Und manche kotzen sich die Seele aus dem Leib.
Ich denke mir oft, dass in Wahrheit die ersten Wochen die anstrengendsten sind, nicht die letzten. Diese nie gekannte Müdigkeit, die Übelkeit, die Geheimniskrämerei dem Arbeitgeber und den Freunden gegenüber, die jede bestellte Maracuja-Schorle mit einem Inspektor-Columbo-Blick quittieren. Die Ungewissheit, wie alles kommen wird, die Angst, das Kind doch noch zu verlieren. Unter der Vorgaukelung vollkommener Normalität so weiterzuleben wie bisher, obwohl in einem drin die Post abgeht: irre eigentlich.
Vielleicht wäre es sinnvoll, die Zeit des Mutterschutzes so wie das Elterngeld flexibel einsetzen zu können, zumindest einen Teil davon (es ist ja gut, dass der Gesetzgeber Hochschwangere schützt)?
Als ich mal wieder nach Frau S., unserem armen Kotz-Zombie, sah, packte sie gerade zusammen. »Yay! Seit zwei Tagen trocken«, sagte sie und lachte. »Ich versuche, den Rest zuhause zu schaffen.« Ihrem Kind ging es übrigens die gesamte Zeit über gut, es war rosig und normalgewichtig, als es 16 Wochen später zur Welt kam. Das ist das Faszinierende: Dem einen Part kann es noch so dreckig gehen, der andere holt sich das, was er braucht. Rein biologisch gesehen ist eine Schwangerschaft eben keine Symbiose, sondern ein parasitäres Verhältnis.
Schwangere, ihr seid meine Heldinnen. Jetzt und für alle Zeit.