Sollte man Leute, die in Rollstuhlzonen sitzen, kritisieren?

In Bus und Bahn gibt es Plätze, die bei Bedarf an Menschen mit körperlichen Einschränkungen, Fahrrädern oder Kinderwägen freizugeben sind. Unsere Leserin stört, dass darauf oft Leute ohne all das sitzen. 

Illustration: Serge Bloch

»Ich wohne in Berlin, fahre täglich Fahrrad und nehme dieses neuerdings auch in S-Bahnen mit, um Zeit zu sparen. Es gibt extra ausgewiesene Zonen, die für Rollstuhlfahrer­Innen, Kinderwagen und Fahrräder freizuhalten sind. Oft sehe ich dort Passagiere sitzen, die nichts davon mit sich führen – obwohl im Rest der S-Bahn ausreichend freie Sitzplätze wären. Ich beobachte oft, dass berechtigte Passagiere, wie ich auch, sich daraufhin mit instabiler Haltung woanders hinstellen. Ich bin über das anscheinend empathielose (und fehlerhafte?) Verhalten meiner Mitmenschen, die sich auf den erstbesten Platz setzen, verärgert. Soll ich sie regelmäßig ansprechen und möglicherweise ein Streitgespräch vom Zaun brechen oder hoffen, dass sie von selbst draufkommen?« Viola K., Berlin

Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich Sie direkt auf einen Fehler hinweise. Die besagten Zonen in der S-Bahn sind nicht etwa für Fahrgäste im Rollstuhl, mit Kinderwagen oder Fahrrad freizuhalten – sondern im Bedarfsfall für diese freizu­geben. Das heißt, Sie sind vollkommen zu Unrecht verärgert. Und die Menschen, die sich einfach auf den erstbesten freien Platz setzen, tun dies nicht etwa aus Mangel an Empathie, sondern sie nehmen ihr Fahrgastrecht wahr, sich hinzusetzen, wo halt gerade frei ist, und sollte jemand mit Kinder-wagen, Rollstuhl oder Fahrrad zusteigen, werden sie hoffentlich ohne zu murren aufstehen. So sollte es jedenfalls sein. Tun sie dies nicht, müsste man sie in der Tat darauf hinweisen, dass sie auf einem Platz sitzen, der in diesem Fall freizugeben ist. Und sollte daraus ein Streit entstehen, gut, dann weiß man zumindest, auch ohne aus dem Fenster zu sehen, dass man in Berlin ist. Da gilt diese gewisse Ruppigkeit doch als wohnwerterhöhendes Merkmal. Sie leben hier, Sie durchqueren diese Stadt mit dem Fahrrad, Sie wissen doch also, dass umschweifloses Anbrüllen hier ein Zeichen des Respekts ist. Wen der Berliner nicht anschnauzt, den nimmt er nicht ernst.

Ich möchte übrigens zu bedenken geben, dass die Menschen in Ihrem Fallbeispiel immerhin sitzen. Oft liegen sie ja. Über mehrere Sitze – und um sie herum sind auffällig viele Plätze frei, was an dem Rinnsal Urin liegt, das sich seinen Weg fein säuberlich aus ihrem Hosenbein heraus auf den S-Bahn-Boden gebahnt hat. Und neulich sah ich einen Mann, beziehungsweise zuerst roch ich ihn, der sich gar nicht mehr setzen konnte, weil er sich dermaßen eingekotet hatte, dass seine Hose ganz braun und steif geworden war. Gut, aber das war in der U-Bahn. Was ich nur sagen möchte: Nicht alle Menschen sind schlecht, und mit vielen kann man auch reden.