Vezzolis Geheimnis

Der Philosoph Bernard-Henri Lévy über die Theorien, die in diesem Heft stecken.

DIE THESEN VON FRANCESCO VEZZOLI

Die Fiktion ist nicht die Kopie der Welt, sondern ihr Double. Die Welt ist nicht das Double der Fiktion, sondern ihre Wirkung.

Was ist das Reale? Das Irreale? Dem Anschein nach das Gegenteil. In Wirklichkeit dasselbe. Fast dasselbe. Nur ein dünner, immer weniger greifbarer Faden unterscheidet sie, trennt sie.

Meistgelesen diese Woche:

Vezzoli »kritisiert« nicht die Moderne, den Medienzirkus, die Vorbestimmtheit der Dinge, die Herrschaft des Nichts, er führt sie vor.

Vezzoli »parodiert« nicht die Fernsehwirklichkeit, die verrückt gewordene Demokratie, den Starkult, er zeigt die Triebfedern, stellt sie zur Schau.

Anders gesagt: Vezzoli prangert nicht an, beklagt sich nicht, beschwert sich nicht; ihm ist das konformistische Gefühl des »Großen Sozialreformers« völlig fremd, der an eine »andere Welt« appelliert, die jene Welt ablösen würde, in der leider Illusionen und Lockmittel den Mangel an Sinn und Gegenwart kaschieren. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er wirklich von dem Pasolini-Interview so inspiriert ist, wie er sagt: Das Gespräch wurde Anfang der Siebzigerjahre veröffentlicht und dort wetterte der Regisseur von Salo oder die 120 Tage von Sodom, Fernsehinterviews seien »die übelste Form der Demütigung«, die man sich für einen Menschen ausdenken könne. Vezzoli wettert nicht; Vezzoli protestiert nicht; Vezzoli entrüstet sich nicht konformistisch; Vezzoli gibt nichts und niemandem die Schuld – er dekonstruiert.

Kennt er Derrida? Hat er, angefangen beim Ursprung der Geometrie bis zu den Texten nach dem 11. September, über die »dekonstruktivistisch« genannten Theorien nachgedacht? Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen. Aber ich kann es mir nicht anders vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm die Thesen desjenigen unter den modernen Philosophen gänzlich unbekannt sind, der am deutlichsten herausgearbeitet hat, dass es immer nur eine einzige Welt gegeben hat: Kern und Ränder sind verschmolzen, Zentrum und Peripherie endgültig miteinander verbunden, es gibt keine Äußerlichkeit, keine radikale Andersheit, alles ist eine Art unausweichliches Enthaltensein, das sein Draußen endgültig in sich aufgenommen hat – eine Ganzheit, die alles umfasst, das Wirkliche und die Fiktion, die Welt und ihre Möglichkeiten, die Stimme und ihr Echo, das endlos nachhallt und nicht einmal mehr die Stimme trägt.

Kennt er Baudrillard? Hat er sich auf die eine oder andere Weise mit dem Theoretiker der Hyperrealität auseinandergesetzt, der die Dummheit des Realismus anprangert, mit dem erbarmungslosen, aber hellsichtigen Kommentator der immerwährenden Herrschaft des Simulakrum, des Hyperrealen? Auch darüber habe ich nie mit ihm gesprochen. Im Übrigen haben wir nie von bedeutenden Dingen gesprochen, selbst bei den Vorbereitungen zu Democrazy nicht, der politischen Fabel, die er auf der letzten Biennale in Venedig vorgestellt hat und die einfach nur die Kehrseite der aktuellen amerikanischen Politik erkunden soll, die hinter die Fassade, hinter die Kulissen eines Präsidentschaftswahlkampfs schauen soll, in dem Sharon Stone und ich die Kandidaten spielten – die Kehrseite aber war ein Double!

Ein Dahinter, das keine Andersheit darstellte! Eine Rückseite, wenn man so will, oder eine Vorderseite, darauf kommt es nicht an, aber jedenfalls mit derselben Oberfläche, der ersten, eben nur umgewendet, das Gesicht ist nie verborgen, der Befehl nie heimlich, und auf keinen Fall zeigt sie eine jener sogenannten unergründlichen Tiefen, die immer wieder von Neuem zu endlosen Spekulationen führen, die stets auf Verschwörungstheorien beruhen, auf unsichtbaren Mechanismen, die angeblich die sichtbare Ordnung steuern. Nein, darüber haben wir nie gesprochen, während er mich dabei beobachtete, wie ich Schritt für Schritt, Wort für Wort mit dem Stab von »Strategen« debattierte, die extra zu meinem Briefing aus Washington gekommen waren, um aus mir einen glaubwürdigen, also unmöglichen Kandidaten für die Rückeroberung des Weißen Hauses durch die Demokraten zu machen. Doch ob er es weiß oder nicht, ich jedenfalls spüre deutlich die Prägung durch dieses große philosophische Denken über die Vernichtung des Realen und die Realität des Nichts – ich spüre deutlich, ich sehe deutlich, dass er ein Zeitgenosse Jean Baudrillards ist.

Dafür hat er Pirandello gelesen. Ihn hat er ganz offensichtlich gelesen, denn sein jüngstes Werk, das im Guggenheim-Museum von New York ausgestellt ist, zeigt eine Rauminstallation zu einem der, wie ich erfahren habe, frühen Stücke des späteren Autors von Sechs Personen suchen einen Autor. Und von Pirandello, von diesem frühen Pirandello, der damit drohte, das Theater endgültig aufzugeben, wenn sein Stück nicht funktionieren würde, hat er die These von der undeutlichen, der perspektivischen Wahrheit übernommen, die eine unendliche und dabei ungewisse, zerbrechliche und fragwürdige Annäherung ist – immer wieder derselbe unfassbare Faden, dieselbe hauchdünne Grenze zwischen Irrtum und Wahrheit, dieselbe strukturelle Ununterscheidbarkeit von Lüge und Wahrheit. Wer sagt die Wahrheit über Herrn Ponza, seine Frau, seine Schwiegermutter? Wer ist der Vernünftige, der sich die Maske des Wahnsinns aufgesetzt hat? Wer der Verrückte im Kostüm des Vernunftwesens? Getöse und Raserei … Theater der Zweideutigkeit … Theater auf allen Ebenen … All the world is a stage … Es gibt keine andere Welt als diese Bühne … Das Stück von Pirandello heißt Cosi è (se vi pare)… Auf Deutsch etwa: »Jedem seine Wahrheit«… Oder mit Shakespeare: »Wie es euch gefällt« … Mit anderen Worten, und unter dem sichtlichen Spott des wilden Dekonstruktivisten, die Tonart Shakespeares ist eine weitere Dimension des Vezzolismus.

Denn es gibt die Verzweiflung bei Vezzoli.

Es gibt einen ontologischen Pessimismus bei Vezzoli.

Die Höhle ohne Ideen.

Die Schatten ohne das Licht.

Last exit vor der fast unvermeidbaren Annahme, dass es einen Himmel gibt.

Er ist einer der wenigen zeitgenössischen Künstler, die tatsächlich aus dem Platonismus hervorgegangen sind.

Nichts und nirgendwo und in welcher Form auch immer wird uns suggeriert: »Das sind die sichtbaren Gesichter dieser Welt – dahinter steckt eine unsichtbare Gestalt.«
Keine Mitte. Kein Rand. Nur Oberflächen.

Keine Dichte. Kein Umfang. Nur Linien, Bewegungen, Geräusche.

Die Klischees … Das Spiel mit den Klischees … Die Eroberung des Raums, des Kopfes, meines Kopfes, seines Kopfes, durch ein Klischee, das zum unumschränkten, also obszönen Herrscher geworden ist, der, ob man will oder nicht, auf vorderster Bühne steht, dort allen Platz einnimmt … Am Anfang steht das Klischee … Im Anfang war nicht das Wort, sondern seine Ironie, sein Hohn, sein Negativ, sein Klischee. Und wenn dieser Gedanke auf den ersten Blick leichtfüßig, unterhaltsam, fröhlich erscheint, ist er in Wirklichkeit doch am schwersten zu ertragen, ja, beinahe tragisch.
Beinahe? Aber natürlich. Denn so lautet der berühmte Ausspruch von Marx über Napoleon III. und den Lauf der Geschichte, die sich immer zweimal wiederholt: zuerst Tragödie, dann Komödie, ja, Farce, groteskes Missgeschick eines legendären Vorgängers, über den er spekuliert.

Vezzolis Traurigkeit.

Die Melancholie eines Menschen, der begriffen hat, dass die Welt ein Grab ist und der Künstler sein Grabwächter. Ist Traurigkeit das treffende Wort?

Melancholie? Letzten Endes vielleicht doch nicht.

Denn es ist zu viel Gefühl in Melancholie und Trauer. Zu viel
Romantik und Roman. Und nichts ist weniger romantisch als der Mann, der in seinem parodistischen Changierbeutel den größten leben-den Schriftsteller Amerikas – Gore Vidal –, die von einer aufgeputschten Fernsehwirklichkeit hochgespülten Stars, Hollywood, das präfaschistische Berlusconi-Italien, das amerikanische und das römische Imperium durcheinanderwirbelt, ich erspare mir die weitere Aufzählung.

Ich habe also mit Vezzoli gearbeitet. Wir haben zusammen mit Sharon Stone aus Los Angeles jenen berühmten Film, Democrazy, gedreht, für den ich zum ersten und sicherlich auch zum letzten Mal in meinem Leben bereit war, eine Krawatte zu tragen. Am meisten verblüfft hat mich in diesen Wochen aber, dass es keinerlei Affekte in seinem Werk gab, das völlige Fehlen von Erregung, Verwirrung, Gefühl. Was rot war, war nicht heiß. Was blau war, war nicht kalt. Sharon Stone war nicht mehr die Verführung in Person. BHL war weder die Marionette noch das Bild im Bild im Bildnis des Bernard-Henri Lévy. Ein Werk, das uns nichts mehr zu sagen hatte, weder über die Wirklichkeit seiner Gesichter noch über die Lüge ihrer Kopien. Am Nullpunkt des Sinns. Ein Minimum an Bewusstheit und Redefertigkeit genügt. Kein Grollen, kein Zelebrieren. Weder Ausdruck noch Eindruck. Klischees eben.

Catherine Deneuve, Marianne Faithfull, Jeanne Moreau, Gore Vidal, Caligula, und jetzt die fiktiven Präsidentschaftskandidaten Patricia und Patrick Hill, die Glückseligen der Kirche Vezzolis: Geht es darum, die Idole neu zusammenzusetzen? Sie auseinanderzunehmen? In welcher Reihenfolge?

Nicht wie in der großen biblischen Tradition: »Du sollst dir kein Bildnis machen«, sondern: »Du sollst nur noch von jedem Idol eine Ikone machen – und umgekehrt.« Nur dass … dieser Ekklesiast seine Ikonen nicht beweihräuchert, sondern banalisiert. Er packt sie an ihrer Seichtheit. Es sind die ersten Figuren einer sakralen Kunst, die nicht glorifiziert, sondern ironisiert, verspottet werden.

Der Warhol-Biograf Stephen Kock nannte Andy Warhol einen »Nabob der Passivität«: Er hätte dasselbe von Vezzoli sagen können.

Schon Baudelaire, dieser andere Geistesbruder, sprach von der »unerschütterlichen Entschlossenheit, sich nicht rühren zu lassen« – Dandy Warhol … Brummell oder Des Esseintes … Vezzolis große Brüder …

Die launige Gier der einstigen Sammler, deren erste Werke, vor 15 oder zwanzig Jahren, aus großartigen, monotonen, obsessionellen, ein wenig verrückten Stickereien bestanden …

Oder Martial Raysse, der zur Zeit seines Werkes Hygiene de la Vision von der außerordentlichen »Kaltblütigkeit« sprach, die Warhols Siebdruck-Serien ausstrahlen: »Werke, die in sich die leidenschaftslose Evidenz des Serienmodells von Kühlschränken haben: neu, keimfrei, beständig.« –
Passt diese Aussage nicht auch auf Vezzoli?

Nur Spießer werden aus diesem verschwommenen Fluoreszieren ein Symbol der Dekadenz und des Kitsches machen.

Nur Dummköpfe werden angesichts dieser modernen Askese von einer »Ära der Leere, des satirischen Nihilismus, der Frivolität« reden.

Ist Vezzoli ein Zeitgenosse? Ja, gewiss. Wenngleich … Lesen Sie noch einmal die Texte eines anderen Philosophen, Michel Foucault, über die »photogene« Malerei. Lesen Sie noch einmal, was Foucault über die Arbeitsweise von Julia Margaret Cameron, Oscar Gustave Rejlander, Peter Henry Emerson, Heinrich Kühn sagt. Als hätte er schon Vezzoli gemeint. Als hätte man Negative einst auf eine Weise verwendet, die ein Jahrhundert später bei Vezzoli wieder auftaucht.

Es heißt, die Fotografie habe die bildliche Darstellung verdrängt. Sie soll die Kunst von der Versuchung zur figürlichen Darstellung befreit haben? Und dann, nach der Fotografie, und noch besser als die Fotografie, sollen die bewegten Bilder ihre eigentliche Rolle spielen – Kino, Video, digitale und synthetische Bilder? Hier verdrängt die Kunst das digitale und synthetische Bild. Sie absorbiert das Bild, das zuvor sie absorbiert hat. Nein, Vezzoli »rehabilitiert« nicht einmal mehr das Video oder das Negativ. Er macht sie nicht »erhaben«, wie man so schön sagt, hebt sie nicht in den Rang hoher Kunst. Er integriert sie. Verschlingt sie. Er macht aus der modernen Bilderwelt eine Provinz seines Reichs, seiner Kunst.

Er ist eine Art Marcel Duchamp der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts.

Es ist kein readymade, und erst recht keine junk culture
sondern die Wahrheit der Kunst, die durch die Kunst der Wahrheit zerlegt wird.

Nicht das berühmte Pissoir, das die ewigen Junggesellen einer nicht weniger ewigen Rose Sélavy noch immer zum Pissen aufsuchen werden – sondern die Katakomben, die Dachböden, die sagenhaften und ruhmreichen Mülleimer der Moderne.

Foto: Studio X

Eine Nacht in New York - die Performance von Francesco Vezzoli:

Die Edition 46 - Künstler gestalten ein SZ-Magazin
"Ich will anderen ihre Persönlichkeit stehlen" - Francesco Vezzoli über seine Arbeit
So ist es (wenn es Ihnen so scheint) - Bilder der Performance
Großes Kino - Alle Darsteller auf einen Blick.
Luigi Pirandello - Der Autor des Stücks "So ist es (wenn es Ihnen so scheint)"
Die englische Original-Version des überarbeiteten Theaterstücks von Luigi Pirandello