Alte Bekannte

Dank moderner Medizin und besserer Lebensbedingungen werden Menschen mit geistiger Behinderung heute deutlich älter als früher. Die Fotografin Gundula Krause hat Menschen porträtiert, die dieser besonderen Generation entstammen.

GUNDULA KRAUSE

Name: Gundula Krause
Geboren: 14.02.1967
Ausbildung: Berufsausbildung zur Fotografin in Berlin
Homepage: www.gundulakrause.de

Frau Krause, wann ist Ihnen das erste Mal ein älterer Mensch mit Behinderung aufgefallen?
Vor drei Jahren stand ich in meinem Viertel in Berlin auf einem Wochenmarkt. An einem Stand blickte ich über Tomaten und Gurken hinweg in das Gesicht einer Frau, die vermutlich das Down-Syndrom hatte. Meine Mutter war Sonderschullehrerin; geistig behinderte Menschen gehörten daher in meiner Kindheit selbstverständlich zu meinem Alltag. Trotzdem überraschte mich ihr Anblick total. Ich war irritiert und verstand zunächst erst gar nicht warum. Dann merkte ich: Sie war alt! Ihr Gesicht erzählte ein ganzes Leben. Ich fand, es muss dokumentiert werden, dass heute auch Menschen mit geistiger Behinderung alt werden können.

Kann man man von der ersten Generation von Menschen mit Behinderung im Rentenalter sprechen?
Absolut. Während der vergangenen Jahrzehnte lebten nur wenige Senioren mit geistiger Behinderung unter uns. Das "Euthanasie"- Programm der NS-Zeit und die Entbehrungen der Nachkriegsjahre überstanden nur Einzelne. Inzwischen jedoch kann man davon sprechen, dass eine erste durchgehende Generation alt werden konnte. Beigetragen dazu haben natürlich auch medizinischer Fortschritt und generell verbesserte Lebens-und Förderbedingungen.

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Trotz Falten und grauen Haaren ist gar nicht so leicht, das Alter der Menschen einzuschätzen.
Finde ich auch. Die Porträtierten sind zwischen 50 und 80 Jahren alt.

Bei den Älteren müssten die Eltern schon verstorben sein.
Ja, aber die Menschen, die ich fotografiert habe, haben sehr unterschiedliche Lebensgeschichten zu erzählen. Manche lebten daheim, solange Eltern und Angehörige zur Verfügung standen, andere wurden schon als Jugendliche in Altenheime verbracht. Erst seit den Siebzigern werden angemessene Wohn- und Lebenskonzepte angeboten. Heute leben die Menschen überwiegend in betreuten Wohngruppen mit WG-ähnlicher Struktur. Der Alltag wird gemeinsam organisiert, die Freizeit individuell geplant. Oft wird abends zusammen gekocht, vom Tag erzählt oder ein Plan fürs Wochenende geschmiedet. Jeder hat seinen Platz und seine Aufgabe in der Gestaltung des gemeinsamen Lebens.

Mehr als 50 Menschen sind es geworden, die Sie in dem Buch GEL(I)EBTES LEBEN mit Texten von Gunda Schwantje vorstellen. Sind Menschen mit geistiger Behinderung vor der Kamera genau so verkrampft wie Menschen ohne Behinderung es oft sind? 
Nein, sie sind sehr unkompliziert. Ich habe selten soviel erfrischende Klarheit erlebt. Mit falschen Höflichkeiten wird ja nicht lange herumgedümpelt und so war es für mich sehr einfach, herauszufinden, wer Lust auf dieses Fotoprojekt hat und wer eben nicht. Die Kontakte liefen immer über die Wohnstätten, in denen die Menschen leben. Das Leben dort wirkt bunt und aktiv, die Tage ausgefüllt. Manchmal war es gar nicht so einfach, Fototermine auszumachen. Etwa Rosel Fischer - sie zu treffen, die wir später auch für das Buch interviewt haben, war eine richtige Herausforderung. Meine Chance bekam ich zwischen Kunstkurs und Geburtstagsverabredung. Für zehn Minuten. Exakt zehn Minuten und nicht elf, man will schließlich nicht zu spät kommen. Obwohl das Thema Selbstbestimmung einen großen Stellenwert bekommen hat, werden die letzten Entscheidungen immer noch von einem gerichtlich bestellten rechtlichen Betreuer getroffen. Die Reaktionen auf meine Anfrage für das Fotoprojekt reichten dort von großer Begeisterung bis zu strikter Ablehnung.

Gab es etwas, auf das Sie achten mussten?
Nein. Ich habe fotografiert, was mir entgegen gebracht wurde, und das ist so vielfältig wie diese Menschen verschieden sind. Da habe ich ansteckende Freude und Begeisterung erlebt, aber auch schüchterne Skepsis. Ich habe an den Orten in Brandenburg und Berlin nach neutralen Hintergründen gesucht und mich dann auf die Gesichter konzentriert. Die erzählen am meisten. Ich möchte den Betrachter einladen, über die Behinderung der Menschen hinwegzusehen und die individuellen Charakterzüge der Porträtierten wahrzunehmen, jenseits üblicher Klischees und Etikettierung. Denn wenn ein Kind ermahnt wird: „Guck da nicht so hin!“, dann lernt es, falsche Scham und Mitleid zu empfinden, statt Offenheit und Interesse zu entwickeln.

Haben Sie die Porträtierten seitdem nochmal getroffen?
Ja. Mein Herz hängt sehr an dem Buch, für das ich immer wieder in die Wohnstätten gefahren bin. Noch heute besuche ich die Menschen ab und zu. Und sie werden älter. Es war erschütternd, als mich Martin Weinert, der mit seiner sanften Ausstrahlung herausragte, einige Monate nach den Arbeiten altersdement nicht mehr erkannte. Als ich Rosel Fischer mein druckfrisches Buch überreichte, schob sie mir im Gegenzug mit leuchtenden Augen ein riesiges Fotoalbum über den Tisch: die letzte Italienreise zusammen mit ihren Mitbewohnern. Jedes Jahr fahren sie in ein kleines italienisches Dorf und auch für diesen Sommer ist die Reise geplant.

Fotos: Gundula Krause