»Sklaverei existiert nicht nur in Geschichtsbüchern«

Rund 400.000 Kinder leben in Haiti als Arbeitssklaven. Die Fotografin Debora Ruppert hat einige davon porträtiert und erklärt im Interview, wie es sein kann, dass dieses System auch heute noch besteht. 

Name: Debora Ruppert
Geburtsjahr: 1981
Wohnort: Berlin
Ausbildung: Autodidakt (Studium: Master of Philosophy / Theologie)
Website: deboraruppert.com/

SZ-Magazin: Frau Ruppert, Sie widmen sich in Ihrem Projekt den haitianischen Restavecs. Was genau ist das?
Debora Ruppert: Eine moderne Form der Sklaverei. Der Begriff kommt aus dem Französischen: »Rester avec« heißt »bei jemandem bleiben«. Er bezeichnet in Haiti Kindersklaven, die in fremden Haushalten mithelfen und dafür Essen und ein Bett bekommen. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 400.000 Kinder in Haiti als Kindersklaven ausgebeutet werden.

Wie kann das sein?                                                                                  
Haiti ist eines der ärmsten Länder der Welt, die Gesundheitsversorgung ist schlecht, das Bildungsniveau niedrig, es ist politisch instabil und es gibt extrem viel Korruption. Viele arme Familien auf dem Land sehen keine andere Möglichkeit, als ihre Kinder als Haushaltshilfen wegzugeben – in der Hoffnung, dass sie bei ihren »Arbeitgebern« genug zu essen bekommen und vielleicht sogar die Chance auf eine Schulausbildung. Das ist eigentlich der Deal.

Ein offiziell erlaubter Deal?
Offiziell ist Kindersklaverei in Haiti natürlich verboten. Es gibt sogar ein Gesetz dagegen. Aber niemand überprüft, ob das eingehalten wird. Dafür ist das Restavec-System kulturell zu tief verwurzelt in dem Land. Für die meisten Menschen ist das eine ganz normale Lebensform, etwas, das man nicht verstecken muss.

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Geht es den Kindern in den anderen Familien tatsächlich besser?
Ich habe leider keinen Fall gesehen und auch von keinem gehört, in dem das so gewesen wäre. Die Kinder leben in der Regel weiterhin in prekären Verhältnissen, noch dazu fehlt ihnen jegliche emotionale Zuwendung. Sie werden oft nicht mehr mit Namen angesprochen, sondern nur noch mit »Garçon«, »Fille« und »Petit Nègre«. Viele der Restavecs, die ich kennengelernt habe, wirken gebrochen, ohne Hoffnung, Freude oder Perspektive. Die meisten haben sich einfach abgefunden mit ihrem Schicksal. Damit, dass sie zu keinem wirklich gehören, dass sie so hart körperlich arbeiten müssen und dafür eigentlich nichts bekommen außer etwas Nahrung und einem Dach über dem Kopf. Noch dazu erfahren viele von ihnen Gewalt und sexuelle Ausbeutung, vor allem Mädchen, die über die Hälfte der Restavecs ausmachen.

Ein ernster, kleiner Junge taucht häufiger auf Ihren Bildern auf, haben Sie zu ihm eine besondere Beziehung?
Das ist S. *, sein Name bedeutet »Von Gott erbeten«. Ich habe ihn 2013 kennengelernt, als ich im Rahmen einer Weltreise in Haiti war. Damals war S. fünf Jahre alt und noch bei seiner Mutter, ein aufgewecktes, fröhliches Kind mit einem sonnigen Gemüt. Drei Jahre später traf ich ihn wieder, da war er schon ein Restavec. Er war ein anderer Mensch, hatte alles Kindliche und alle Leichtigkeit verloren. S. steht jeden Tag vor Sonnenaufgang auf und geht erst schlafen, wenn die Sonne wieder untergegangen ist. Dazwischen macht er Feuer, holt Holz und Wasser, wäscht Wäsche, betreut die leiblichen Kinder der Familie. Die Hoffnung seiner Mutter auf ein besseres Leben für ihren Sohn – ich befürchte, dass sie sich nicht erfüllt.

»Viele der armen Familien haben schon zu wenig Essen für ein, zwei Kinder, aber oft sind die Familien deutlich größer«

Können die Kinder denn zurückkehren zu ihren richtigen Familien?
Theoretisch ist das möglich. Aber es gibt ja einen Grund, weshalb sie weggegeben wurden: Viele der armen Familien haben schon zu wenig Essen für ein, zwei Kinder, aber oft sind die Familien deutlich größer. Es geht dann wirklich ums nackte Überleben, und nur deshalb ist es möglich, dass die Armen die noch Ärmeren und Schwächeren ausbeuten. Denn die Familien, zu denen die Kinder kommen, sind ja auch nicht wohlhabend.

Sondern?
Sie wohnen meist ebenfalls in den Slums der Hauptstadt Port-au-Prince in extremer Armut. Um sich das Leben ein Stück weit zu erleichtern, nehmen sie die Kindersklaven zu sich, damit jemand auf ihre eigenen Kinder aufpasst und den Haushalt macht, während sie als Straßenverkäufer arbeiten. Es ist perfide. Die kleine haitianische Oberschicht hat es gar nicht nötig, Kindersklaven zu halten, sie können sich Haushaltsangestellte leisten, die sie bezahlen. Auch deshalb ist es so schwer, das Problem anzugehen: Es gibt im Restavec-System nicht gut oder böse, schwarz oder weiß. Alle versuchen nur, irgendwie zu überleben.

Sehen Sie einen Ausweg aus diesem System?
Zunächst müsste sich in der Strafverfolgung grundlegend etwas verändern. Die haitianische Regierung hat zwar ein Gesetz verabschiedet, das Menschenhandel mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft. Das Gesetz scheint allerdings nur auf dem Papier zu existieren. Dann muss sich im kulturellen Verständnis der Haitianer etwas tun, aber da sehe ich nur eine Chance, wenn es ihnen insgesamt als Gesellschaft besser geht, sonst ist dafür kein Raum. Im Grunde müsste man ganz von vorne anfangen: die Umwelt viel stärker schützen, Wiederaufforstung betreiben, damit heftige Regenfälle nicht ständig die Ernten zerstören und die Menschen mehr Nahrung und wirtschaftliche Mittel haben. Dafür bräuchte es aber unter anderem das Verständnis dafür, dass Müll nicht einfach verbrannt werden kann. Und Korruption ist ein großes Problem. Menschen in einflussreichen Positionen, sogar Regierungsmitglieder, lassen einen Großteil an Hilfsgeldern in die eigene Tasche fließen, so dass es nicht bei den Bedürftigen ankommt. 

In Haiti sind viele NGOs aktiv, können die gar nichts bewirken?
Das ist kompliziert. Etliche Haitianer haben ein kritisches Verhältnis zu Hilfsorganisationen, da manche von ihnen nach dem schweren Erdbeben 2010 schlechte Erfahrungen gemacht haben: Es gab Missbrauchsskandale und vorgetäuschte NGOs, die Spendengelder veruntreut haben. Aber ich habe vor Ort auch wirklich beeindruckende Arbeit von NGOs gesehen, die sich intensiv für die Menschen einsetzen, ein Vertrauensverhältnis zu den Haitianern aufgebaut und tiefgreifende Veränderungen im Leben von Einzelnen oder ganzen Dörfern bewirkt haben.

Werden Sie wieder nach Haiti reisen?
Ich habe es fest vor. Denn die Haitianer sind trotz allem ein wirklich herzliches und lebensfrohes Volk. Ich habe für meine Arbeit schon einige Entwicklungsländer bereist, aber nirgends sind mir so stolze und selbstbewusste Menschen begegnet. Vieles davon gründet sich auf die Haitianische Revolution von 1791, als sich die Haitianer durch einen Sklavenaufstand von der französischen Kolonialmacht befreiten und den ersten unabhängigen Stadt in Lateinamerika formten. Diesen Stolz tragen die Menschen in ihren Herzen und in ihrem kulturellen Verständnis.

Ist es deshalb nicht umso verwunderlicher, dass Teil dieser Kultur eine moderne Form der Sklaverei ist?
Das mag für uns widersprüchlich erscheinen. Aber wie gesagt: Die armen Familien handeln fest in dem Glauben, damit etwas Gutes für ihre Kinder zu tun. Es ist in ihren Augen die beste Möglichkeit, um die Zukunft der Kinder zu sichern. Und wenn uns das falsch vorkommt, sollten wir unsere eigene Welt hinterfragen. Statistiken gehen davon aus, dass es heutzutage weltweit zwischen 20 und 40 Millionen Sklaven gibt: Arbeitssklaven, Sexsklaven, Kindersklaven, und zwar nicht nur Zehntausende Kilometer entfernt von uns. Denn wir konsumieren Produkte, die Sklaven hergestellt haben, und unterstützen damit ein System der Sklaverei. Und auch hier in Deutschland ist Menschenhandel real, zum Beispiel in Form von Zwangsprostitution. Sklaverei existiert nicht nur in Geschichtsbüchern, sie ist Teil unserer modernen Gegenwart. 

Am 23. August ist Welttag gegen Sklavenhandel.