»Kreativ sind oft die, von denen man es am wenigsten erwartet«

Alfred Steffen hat für das SZ-Magazin 160 Interviews ohne Worte fotografiert, unter anderem mit Lenny Kravitz, Ursula von der Leyen, Katy Perry und Peer Steinbrück. Ein Gespräch über euphorische Superstars, fantasielose Schauspieler und die Wirkung von nach oben gezogenen Augenbrauen.

SZ-Magazin: Erinnerst du dich noch an den ­Moment, als du zum ersten Mal von Sagen Sie jetzt nichts gehört hast?
Alfred Steffen: Klar, vor 13 Jahren klingelte mein Handy, am anderen Ende war eure Bildredakteurin Eva Fischer und erzählte mir, dass das SZ-Magazin eine neue ­Rubrik plane, ein »Interview ohne Worte«, nur mit Ges­tik und Mimik. Sie meinte, es gebe ein Vorbild: den Bildband The Frenchman, den der legendäre Porträt- und Modefotograf Philippe Halsman 1949 mit dem französischen Schauspieler Fernandel gemacht hat. Danach wusste ich, was sie meinte, weil ich das Buch kannte und immer wieder an Assistenten verschenkt hatte.

Hast du sofort zugesagt?
Ja, weil ich die Idee reizvoll fand. Skeptisch war ich trotzdem.

Warum?
Ich war mir nicht sicher, ob es funktionieren würde, das Foto direkt im Anschluss an die Frage zu machen, also die unmittelbare Reaktion der Prominenten einzufangen. Dazu kam, dass man sich als Fotograf bei dieser Strategie kaum einbringen kann, also eher eine Art Fotoautomat ist. Aber egal, ich hatte zugesagt und mir für den ersten Termin eine Mittelformatkamera mit Spezialblitz und Akku auf der Schulter zusammengebaut.

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Wen hast du für dein erstes Sagen Sie jetzt nichts fotografiert?
Jürgen Trittin. Die Fragen waren super, zum Beispiel: »Können Sie einen Büstenhalter-Verschluss mit einer Hand öffnen?« Leider sah er auf allen Fotos gleich aus, immer legte er den Kopf leicht schief und machte ein spitzes Mündchen. Ich schlug ihm vor, die Fragen in einem zweiten Durchgang noch mal zu beantworten, als einer seiner Mitarbeiter anrief, er müsse in zehn ­Minuten im Bundestag sein, eine wichtige Abstimmung. Danach war klar, dass man das Shooting stärker moderieren und den Promis die Chance geben muss, sich für die Antworten ein bisschen Zeit zu nehmen. Und so haben wir es dann ja auch gemacht, bis heute.

Du hast 160 Sagen Sie jetzt nichts-Folgen foto­grafiert. Was machst du heute anders als vor zehn Jahren?
Ich quatsche nicht mehr so viel, sondern lasse die Frage wirken und warte ab, was passiert. Die Stille muss man aushalten, aber oft lohnt es sich. Wenn jemand nach einer Minute immer noch keine Antwort hat, hake ich nach: Okay, was willst du ausdrücken? Meistens entwickelt sich so eine Plauderei, an deren Ende eine Idee steht. Wenn auch das nichts nutzt, schlage ich eine ­Geste vor, was immer dazu führt, dass das Gegenüber sagt: Okay, danke, aber ich habe noch eine bessere Idee. Ist ein psychologischer Trick. Kein Mensch will das  machen, was ihm vorgeschlagen wird.

Ein Kollege hat den angetrunkenen Til Schweiger nach einer Filmpremiere innerhalb von zwölf ­Minuten interviewt. Welches war dein schnellstes Sagen Sie jetzt nichts?
Katy Perry im Soho House. Ich werde nie vergessen, wie sie mit einer Entourage aus acht Menschen in den Saal kommt, ein Feuerwerk abbrennt, wieder rausschwebt, und jetzt kommt’s: an der Tür umdreht und sich sowohl bei mir als auch bei meiner Assistentin mit Namen bedankt. Das ist extrem ungewöhnlich, und ich war wirklich beeindruckt. Tolle Frau, intelligent, wach, sympathisch. Nach elf Minuten war alles gelaufen. Auf die Frage, ob sie kurz über die Bilder schauen wolle, meinte sie nur: »Don’t worry, you can use them all.« Lenny Kravitz werde ich auch nie vergessen. Er war unglaublich begeisterungsfähig, dem hat das irre Spaß gemacht. Nach der letzten Frage ging er mit mir die Bilder durch und meinte: »Alfred, lass uns diese drei Fragen noch mal machen, ich glaube, das geht noch besser.« Am Ende war aus der vereinbarten halben eine ganze Stunde geworden.

Gab es ein Shooting, das dich an den Rand des Nervenzusammenbruchs geführt hat?
Für einen Nervenzusammenbruch bin ich zu stabil, aber die Sängerin Janelle Monáe war schon ziemlich nervig. Um den Termin überhaupt zu bekommen, musste ich am Vorabend auf ein mittelmäßiges ­Meet-and-greet-Konzert und anschließend 45 Minuten lang warten, bis ich ihr persönlich vorgestellt wurde. Am nächsten Tag kam sie in die Hotelsuite geschwebt, eine Stylistin im Schlepptau, unnahbar, unfreundlich, puppenhaft. Bei den Fotos hat sie sich immer zur Seite gedreht, irgendwann merkte ich, okay, das ist ihre Schokoladenseite, und mehr kriege ich einfach nicht, die zieht das ohne Rücksicht auf Verluste durch.

Was hast du in all den Jahren über Menschen, insbesondere über prominente Menschen ­gelernt?
Kreativ sind oft die, von denen man es am wenigsten erwartet, Politiker, Anzugträger, Leute aus der Wirtschaft. Ursula von der Leyen zum Beispiel war schnell, mutig, schlagfertig. Ich erinnere mich an die Frage: »Auf welchen Körperteil achten Sie bei Männern ­eigentlich zuerst?«. Die Redaktion war davon ausgegan­gen, dass sie auf die Augen zeigen würde, und hatte als Anschlussfrage vorgeschlagen: »Wir meinen nicht die Augen, wohin schauen Sie wirklich?«. Sie aber streckte schon bei der ersten Frage den Hintern raus.

Am einfachsten ist es wahrscheinlich mit Schauspielern, oder?
Das denkt man, es stimmt aber nicht, zumindest nicht immer. Manche sind richtig hilflos, wenn sie keine Vorgaben, kein Drehbuch haben. Manchmal war ich enttäuscht, weil das Gegenüber so fantasielos war. Jürgen Vogel zum Beispiel, den ich extrem bewundere, ist nichts eingefallen, der war einfach nicht spontan. Zu seiner Verteidigung muss ich dazusagen, dass er, nachdem wir die Gesten erarbeitet hatten, extrem beeindruckend in der Umsetzung war, ein richtiger Vollprofi.

Gibt es Menschen, die du nie im Leben fotografieren würdest?
Ja, sämtliche AfD-Politiker. Würde ich nicht machen. Wenn man eine politische Überzeugung hat, und diese Partei lehne ich nun mal ab, möchte ich nicht dazu beitragen, dass solche Leute Bilder von sich haben, auf denen sie vorteilhaft rüberkommen.

Wenn du einen Wunsch frei hättest, welche ­Berühmtheit hättest du gern vor der Kamera?
Den Papst. Ich bin Agnostiker, aber Papst Franziskus finde ich cool.

Okay, und jetzt ein realistischer Wunsch.
Angela Merkel. Ich weiß, dass sie nicht gern fotografiert wird, aber ich würde es ihr so angenehm wie ­möglich machen und für gnädiges Licht sorgen. Und Úrsula Corberó. Eine spanische Schauspielerin, die die Hauptrolle in der Netflix-Serie Haus des Geldes ­gespielt hat. Unfassbar tolle Frau, modern, feminin, sexy, aber nie vulgär.

Was ist die beste Frage, die du je von uns geschickt bekommen hast?
»Was macht Ihre Seele, wenn Sie schlafen?«

Was ist so gut daran?
Sie ist fantasievoll, offen und poetisch.

Der Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck brach ein Shooting in Paris ab und erklärte ­anschließend, dass er sich beim Lesen auf einmal gefragt habe, ob Thomas Mann so was mit­gemacht hätte – und die Antwort war natürlich: Nein. Hast du so was auch mal erlebt?  
Nicht so krass, aber der Schauspieler Rupert Everett wusste nicht mal, worauf er sich eingelassen hatte. Die PR-Frau sah mich an und meinte nur: Fotos? Auf keinen Fall, Mister Everett fühlt sich heute nicht gut. Wirklich abgebrochen hat nur Charlotte Gainsbourg, und ganz ehrlich, ich konnte sie verstehen, weil sich die Fragen fast ausschließlich um ihren Vater und ihre Mutter drehten. Sie wurde nach zwei Fragen skeptisch, nach vier ungehalten, nach der fünften meinte sie: »Stopp, so läuft das nicht. Wir lassen das jetzt.« Es braucht eine vertrauensvolle Atmosphäre, um vor der Kamera zu agieren.

Hast du eine Methode, wie du dein Gegenüber locker machst?
Ich bin kein Intellektueller und habe nicht viel Ahnung von Literatur und Philosophie, aber meine Mutter ist ­eine lustige, kommunikative Frau, und ich glaube, das habe ich von ihr geerbt. Ich komme schnell an Menschen ran, bin direkt, manchmal zu direkt. Meistens erzähle ich vor der ersten Frage ein bisschen von mir, auch persönliche Dinge, damit mache ich klar: Hey, wir sind beide keine Heiligen, sondern einfach nur Menschen. Du, obwohl du prominent bist, und ich, obwohl ich dich gleich fotografiere. Im Grunde geht es um gegenseitigen Respekt. Darum, dass jeder ein bisschen was von sich preisgibt, der eine vor, der ­andere hinter der Kamera. Neulich habe ich dem Schauspieler Ronald Zehrfeld erzählt, wie meine Frau nach 14 gemeinsamen Jahren auf einmal im Auto den Kopf zu mir dreht und fragt: »Alfred, bist du mir eigentlich treu?«

Bist du vor den Shootings nervös?
Nein, dafür habe ich es zu oft gemacht. Der erste Prominente, den ich jemals fotografiert habe, war Willy Brandt, damals war ich 23 Jahre alt. Ich hatte die Nacht davor nicht geschlafen, mir war schlecht, aber auf dem Flug nach Bonn hatte ich eine Vision: Willy Brandt, wie er mit heruntergelassener Hose auf dem Klo sitzt. Seitdem hat sich das mit der Nervosität erledigt. Nervös, oder sagen wir genervt, bin ich nur, wenn von außen Druck aufgebaut wird, zum Beispiel vom Management oder von PR-Mitarbeitern, die ihre Helden anhimmeln und auf Teufel komm raus vor Kritik bewahren wollen.

Hast du ein Beispiel?
Ja, vor Jahren hatte ich einen Termin mit dem Regisseur Roland Emmerich. Ich baute gerade das Licht auf, er gab nebenan ein Interview, als seine PR-Frau fragte, ob sie einen Blick auf die Fragen werfen dürfe, die ausgedruckt auf dem Tisch lagen. Ich gab sie ihr und konnte zusehen, wie sie schon bei der ersten Frage blass wurde: »Herr Emmerich, das deutsche Feuilleton belächelt Ihre Filme meist. Macht Sie das zornig oder traurig?« Sie war völlig verzweifelt und meinte, so eine unverschämte Frage könne man auf keinen Fall stellen. Ich meinte dann: »Liebe Frau Soundso, ich habe Ihnen ausnahmsweise erlaubt, die Fragen zu lesen, jetzt seien Sie so gut und lassen Sie sie mich auch stellen, alles andere kann Herr Emmerich dann ja selbst entscheiden.« Er fand die Frage übrigens sehr witzig und beantwortete sie mit rausgestreckter Zunge. Die Promis sind fast immer cool, vor allem die richtig großen. Problematisch wird es meistens erst in der zweiten und dritten Garde.

Es gibt einen festen Stamm von Sagen Sie jetzt nichts-Fotografen – Frank Bauer, Tibor Bozi, Axel Martens. Wie gefallen dir die Bilder deiner Kollegen?
Ich finde, dass es jeder auf seine Art toll macht. Es gibt Unterschiede, das Licht ist anders, man erahnt die Persönlichkeit des Fotografen in den Bildern, aber das sind Feinheiten. Manchmal bin ich neidisch, weil andere einen Termin bekommen, den ich gern gemacht hätte. Neulich zum Beispiel wurde mir Schorsch Kamerun weggeschnappt, aber ich kann mich nicht beschweren, die Knaller kriege meistens ich, weil die fast immer in Berlin und nicht in Hamburg oder Köln absteigen.

Spielt es eine Rolle, ob du das Gegenüber sympathisch oder unsympathisch findest?
Das habe ich mir abgewöhnt. Trotzdem gibt es Leute, die ich vor dem Shooting, während des Shootings und nach dem Shooting schrecklich finde.

Nämlich?
Verrate ich nicht, da gehe ich mittlerweile professionell ran. Früher war ich zickiger, und wenn ich jemanden nicht mochte, habe ich auch mal abgesagt oder die schlechte Stimmung mit in den Termin genommen. Das würde mir heute nicht mehr passieren. Ich habe vor dreißig Jahren sogar mal ein Shooting mit den ­Rolling Stones abgesagt.

Nicht dein Ernst!
Doch, und das war kein Drei-Minuten-Termin, sondern ein richtig opulentes Shooting mit zehn Seiten für die Zeitschrift MAX. Aber mein Gott, ich fand die nicht interessant, irgendwie totfotografiert. Heute ärgere ich mich, aber so war ich, jung, arrogant und gnadenlos ehrlich.  

Bei Sagen Sie jetzt nichts stand anfangs ausschließlich das Gesicht im Fokus, inzwischen arbeiten die Promis mehr mit dem Körper und mit Accessoires. Wie stehst du dazu?
Das strenge Konzept war reizvoll, weil eine nach oben gezogene Augenbraue intensiver sein kann als irgendwelche Faxen, aber insgesamt wurden die Bilder abwechslungsreicher, und das ist gut so, weil das Arsenal an menschlichen Gesichtsausdrücken nun mal endlich ist. Es ist wirklich irre verzwickt, so viele Fragen ausschließlich mit dem Gesicht zu beantworten, deshalb war diese Aufweichung irgendwann notwendig. Viele Menschen brauchen ein Hilfsmittel, eine Bewegung, einen Gegenstand, damit kann man ganz andere Dinge machen. Mir ist wichtig, dass es organisch passiert, dass die Gegenstände in diesem Moment wirklich herumliegen und spontan eingebunden werden, es darf nicht kalkuliert oder effekthascherisch sein.

Der Sänger Lenny Kravitz auf die Frage: »Sie sind dieses Jahr 50 geworden. Wie schaffen Sie es, musikalisch immer noch mitzumischen?«.

Hast du ein Beispiel?
Ja, der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen. Auf die Frage »Wie klingt für Sie die deutsche Sprache?« überlegte er kurz, lief an die Hotelbar, griff sich einen Haufen Teelöffel und steckte sie sich in den Mund. So was kann man nicht erzwingen, auf so was kommt man als Fotograf auch nicht, das muss einfach passieren.

Was macht mehr Spaß: klassische Porträtfotos oder ein Sagen Sie jetzt nichts-Shooting für das SZ-Magazin?
Das klassische Porträt ist die Krönung, weil ich mich als Fotograf stärker einbringen, mir einen Ort, einen Hintergrund, eine Stimmung ausdenken kann. Bei ­Sagen Sie jetzt nichts bin ich als Fotograf reglementierter. Aber das ist auch reizvoll, weil man die Freiheit, die man hat, eben auch besser oder schlechter aus­spielen kann. Manchmal mache ich nach den zwanzig Fragen noch ein Bild, ein klassisches Porträt, das ist dann meines.

Wie anstrengend ist so ein Shooting?
Sehr, danach bin ich leer und ausgelaugt. Der Druck ist enorm, zwanzig Bilder in dreißig Minuten, meistens muss der erste Schuss sitzen. So ein Shooting läuft ja auf mehreren Ebenen ab: die Interaktion mit dem ­Promi, dazu die PR-Leute, die technischen Details, das Licht, die Schärfe, die Perspektive, die Gesten, alles muss ­zu­sammenpassen.

Findest du nach all der Zeit, dass unsere Idee, mit Sagen Sie jetzt nichts ein neues Interview­format zu etablieren, aufgegangen ist? Erfährt man durch die Bilder wirklich etwas über diese ­Menschen, oder handelt es sich nur um auf­sehen­erregende Hingucker?
Ich meine, in diesen Fotos oft mehr über einen Menschen zu erfahren als in herkömmlichen Frage-Antwort-Interviews. Gesichter sagen mehr aus, als man denkt, und auch wenn sich jemand verstellt, kann man die Verstellung durchschauen und erkennt gerade dadurch den Menschen dahinter. Es ist aufregend, die Bilder zu entschlüsseln, darüber nachzudenken, was jemand mit dieser oder jener Geste gemeint haben könnte. Das Reizvolle ist ja, dass Gesten mehrdeutig sind. Ein Satz steht einfach nur da, schwarz auf weiß, eine Geste ist immer Interpretationssache.   

Hast du dich während des Shootings mal mit einem Prominenten angefreundet?
Nein, ich halte Distanz zu den Leuten, die ich fotografiere, und achte darauf, dass die Stimmung nicht zu kumpelhaft wird. Natürlich trifft man den einen oder anderen Jahre danach in einem anderen Zusammenhang, das kann nett sein und auch mal eine Tür öffnen, aber ich erzwinge das nicht. Manchmal entsteht trotzdem eine große Nähe, weil manche Leute charmant und einfach sympathisch sind, aber Freundschaften? Nein, ich habe andere Freunde, die sind mir wichtiger.

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