Louise und ich sitzen am Küchentisch. Gleich werden wir Abendbrot essen. Ohne Martha, sie ist auf Klassenfahrt in Österreich. Was Martha wohl gerade macht, sagt Louise und schaut raus in die Dunkelheit. Louise sorgt sich, wenn wir nicht vollzählig sind. Wenn wir streiten, sich jemand zurückzieht. Wie ein Hirtenhund läuft sie zwischen den Zimmern hin und her. Ich vermisse Martha, sagt sie jetzt. Wir schweigen. Sie ist erst seit gestern weg, antworte ich. Trotzdem, sagt Louise.
Am zweiten Tag ohne Martha schreibt Louise auf einen Zettel: Wir vermissen dich. Sie legt ihn auf Marthas Kopfkissen, nachdem sie das Bett gemacht hat. Wir müssen raus, denke ich, und führe Louise aus, Käsespätzle in einer Eckkneipe. Zwischen Stammgästen überlegen wir, welche der Lampen wir schön finden und Louise sagt: Ein Glück, dass Martha nicht dabei ist. Sie hätte bestimmt ihr Glas umgestoßen, unser Tisch ist so klein. Und dann erinnern wir uns daran, welche lustigen Missgeschicke Martha passiert sind. Es sind ziemlich viele.
Fünf Tage später kommt Martha wieder, wir sammeln sie vor der Schule ein. Louise hüpft die Straße hinunter und spricht so schnell, dass ich sie kaum verstehe. Sie verhaspelt sich, lacht, Mama, ich bin aufgeregt. Auf dem Rückweg redet nur Martha, Louise zieht ihren Koffer. Zwischen den Geschichten ihrer Schwester wirft sie ein, dass sie oft alleine gewesen sei. Dass sie im Gegensatz zu Martha pünktlich ins Bett gehen musste und österreichische Fleischgerichte gab es schon mal überhaupt nicht Zuhause. Sie macht Martha verantwortlich für ein paar miese Tage, in denen sie das Vermissen geplagt hat.
Martha lächelt und nimmt alles wortlos hin. Das Verhältnis der Kinder hat sich verändert seit sie zwischen den Eltern pendeln. Es ist enger. Sie streiten seltener, schließen schneller Frieden. Sie ergreifen füreinander das Wort, wenn sie das Gefühl haben, ich behandele sie ungerecht. Sie sind die einzigen in unserer Familie, die zusammengeblieben sind. Sie wissen mehr übereinander als ihre Eltern es können, sind Zeuginnen, Chronistinnen, einzige konstante Bezugsperson. In einer Zeit, in der ich Beziehungen gelöst, Verhältnisse gelockert und den Abschied geübt habe, ist die Nähe zwischen meinen Mädchen gewachsen. Wird sie ihnen bleiben? Werden Sie sich als erwachsene Frauen anrufen, wenn sie Zweifel haben, sich freuen? Ich wünsche es mir.
Zuhause verschwinden sie in Marthas Zimmer um sich zu besprechen. Und im Verschwinden sind sie ganz bei sich. Sie sind keine Hirtenhunde, keine Pendler sondern Kinder, die Geheimnisse austauschen, Musik hören, malen oder aus Versehen noch mal mit Playmobil spielen. In diesen Momenten laufe ich auf Zehenspitzen vor Glück, rufe meine Mutter an und prahle: Solche Kinder, soll mal einer nachmachen.
Illustration: Grace Helmer