Ich stehe vor drei blühenden Magnolienbäumen. Das ist Teil einer neuen Übung: Beim Spazierengehen stehen bleiben, wo und wann ich will, und die Gefahr aushalten, dass mich jemand ansprechen könnte: Na Sie, hier so verloren? Nach zwei Wochen Ferien mit Martha und Louise ist das erste Wochenende ohne sie ein einziger Übungsplatz, dagegen sind Bootcamps ein Witz. Es läuft ganz gut, finde ich, da taucht hinter mir ein Mann auf, telefonierend. Das Wetter ist toll, sagt er ins Telefon, ganz warm, und hier blühen die Kirschbäume. Magnolien, sage ich höflich und gehe weiter. Der Mann korrigiert sich, holt auf.
Das war meine Mutter, erklärt er ungefragt, sie ist 86. Mein Vater ist seit 20 Jahren tot, und da sie in Bonn lebt, also weit weg, rufe ich sie dreimal am Tag an. Ich schaue den Mann an, er ist groß, kahlköpfig, Mitte fünfzig vielleicht. Dreimal am Tag? Er zuckt die Schultern, die Anrufe seien kurz und kosteten ihn keine Mühe. Dann sagt er: Die Mutter bleibt halt die Mutter. Weil ich mir nicht sicher bin, ob man das so behaupten kann, schweige ich, und der Mann verabschiedet sich und geht voraus.
Wie muss man sich verhalten, um zu DER MUTTER zu werden? Ich stelle mir seine Mutter vor, eine Versorgerin, Rheinischer Sauerbraten, immer präsent, verlässlich wie eine Kommode aus Teakholz, die über Generationen vererbt wird. Kurze Mutlosigkeit, ich kann eine solche Mutter nicht sein. Als Teilzeitmutter habe ich nicht die Möglichkeiten, meine Töchter lückenlos durch ihre Kindheit zu begleiten. Ich sehe sie nur jede zweite Woche. Ich arbeite tagsüber. Ich weiß weniger über sie als der fremde Mann über seine Mutter: Was machen Martha und Louise in genau diesem Moment?
Aber ich kann mich darauf verlassen, Wichtiges zu erfahren. Meine Töchter werden mich nicht anrufen, um mir fälschlicherweise von blühenden Kirschbäumen zu erzählen, diese Irrtümer werden in unserer Familie unentdeckt bleiben. Andere hoffentlich nicht. Eine gute Mutter, hat die französische Philosophin Élisabeth Badinter gesagt, vermittle ihren Töchtern, dass das Leben wunderbar sei und die Welt ihnen offen stünde. Unter diesen Voraussetzungen habe ich doch noch Chancen, zu der Mutter zu werden, die bleibt. Mit der Martha und Louise telefonieren, um sie an ihren Ideen und Entscheidungen teilhaben zu lassen. Und bei der Gelegenheit könnte ich fragen: Und sonst so? Nicht dreimal am Tag, das würde uns alle überfordern. Aber vielleicht – jede zweite Woche?
Illustration: Grace Helmer