Leibchenvisitation

Jeder EM-Teilnehmer hat nun einmal gespielt, Zeit für das wirklich wichtige Fazit: Wer hat das schönste Trikot? Und wer sollte besser gleich oben ohne auflaufen? Eine doppelte Stilkritik.

Europa an der Leine: Trikots im EM-Spielort Baku.

Foto: afp

Der Unfall: Belgien

Heimtrikot, Adidas

Stimmt schon, was viele Fans bei der Vorstellung dieses Trikots als erstes sagten: Da sind sie bei Adidas einfach quer mit dem Reifen drübergewalzt. Moderedakteure sehen dagegen sofort expressionistische Pinselstriche wie bei Céline aus der Saison SS2014. So oder so sind die Belgier im Vergleich deutlich avantgardistischer unterwegs. Passt ja auch zu ihrem Spiel – jedenfalls zu dem, das vor jedem großen Turnier vom ewigen Geheimfavoriten erwartet wird.

Silke Wichert (Mode-Expertin und Fußball-Fan)

Seien wir dankbar, dass der Ex-Fußball-Moderator Gerhard Delling inzwischen hauptberuflich Supermarkt-Werbung macht. Die Vorstellung, welche Überleitungen Delling aus diesem Trikot gemacht hätte (»Kommen die Belgier unter die Räder?«), lässt einen beinahe Unterschriftenlisten zur Abschaffung der Öffentlich-Rechtlichen unterzeichnen. 

Marc Baumann (langjähriger Sportredakteur und Fußball-Fan)

Fotos: dpa

Das Trauerkleid: Deutschland

Heimtrikot, Adidas

Adidas nennt den neuen Look vollmundig »Nadelstreifendesign«. Irgendwas muss man zu diesen Leibchen mit Querstreifen ja erfinden, die so generisch wie aus der L.O.G.G.-Abteilung von H&M daherkommen. Hat zum Auftakt ja auch nur mittelmäßig Glück gebracht. Schlimmer ist nur das mit fortschreitendem Alter abnehmende Tailoring des dazugehörigen Trainers: Ganz früher trug er maßgeschneiderte Hemden, dann Pullis, heute graues Schlabber-T-Shirt über der Hose. »Die Casualisierung des Herrn Löw« klingt wie ein Goethe-Roman, ist aber eher ein volkstümliches Trauerspiel.

Silke Wichert

Eine Trikot wie eine Jogi-Löw-Aufstellung: rätselhaft. Warum wurden die Deutschlandfarben an den Trikotärmel genäht? Warum spielt Toni Kroos als Balleroberer vor einer Fünferkette? Vermutlich könnten kleine Korrekturen (Ärmelflagge abschneiden / Kimmich ins Mittelfeld ziehen) noch etwas retten, aber Löw und Adidas neigen dazu, einen noch schlechteren Plan B als Plan A zu haben (siehe Volland als Linksverteidiger und das pechschwarze DFB-Auswärtstrikot).

Marc Baumann

Fotos: dpa, AP

Brüder zur Sonne: Nordmazedonien

Heimtrikot, Jako

Endlich geht mal die Sonne auf! Und dann ist es gemäß der Landestradition auch noch die »der Freiheit«! Das mit Abstand gewagteste Design dieser EM, denn der Rest ist ja über weite Strecken so schlicht geraten, dass man sich fast das spanische »Wie ausgekotzte Paella«-Trikot von der EM 2016 zurückwünscht. Allein schon, damit für die Jahrbücher dieser eh schon seltsamen Multi-EM optisch irgendwas hängen bleibt. Mit mutigen Trikots hinterlässt man als kleines Land außerdem bleibenden Eindruck – falls man die Vorrunde nicht übersteht.

Silke Wichert

Es muss ja nicht jeder in Nike, Puma oder Adidas auflaufen, man kann auch mal Jako nehmen, einen übrigens deutschen Sportartikelhersteller, gegründet 1989 in einer Garage in Stachenhausen. Jako hat bei Sportgeschäften offenbar ein gutes Ansehen und sponsert mehrheitlich sympathische Vereine wie FFC Turbine Potsdam oder Energie Cottbus. Die aufgehende Sonne auf dem Trikot ist schön, aber kann bitte, bitte, bitte jemand ein neues Firmen-Logo designen?

Marc Baumann

Meistgelesen diese Woche:

Für Golf-Hooligans: England

Auswärtstriko, Nike

Eigentlich ist es nie eine gute Idee, Polokragen und Knöpfe an ein Fußballtrikot zu stricken. Das Design bleibt auf halber Strecke zwischen prolligem Hooligan und preppy Golfprofi stecken. Aber bei der zweiten Garnitur von England ist das eigentlich auch schon wieder egal, weil das Ton-in-Ton-Muster mit verfremdeten »Lions« wie diese optischen Täuschungen aussehen, auf die man sehr lange (schielend) gucken muss, bis sich ihr Sinn ergibt.

Silke Wichert

Wer genau hinsieht, erkennt ein Muster im Trikot. SIeht aus als hätte jemand die »Three Lions« des englischen Wappens in einen Mixer gesteckt und grob zerhäkselt aufs Leibchen gestrichen. Dazu als Trikot-Grundton ein zu helles Blau. Erinnert farblich an frühere Auswärtstrikots der Holländer. Auch das noch.

Marc Baumann

Play it safe: Frankreich

Heimtrikot, Nike

Insgesamt ist bei den Trikots bei dieser EM nicht viel los. »Playing it safe« gilt für die meisten Entwürfe - obwohl bei den Vorlaufzeiten in den Designabteilungen noch niemand etwas von Corona ahnen konnte. Die Franzosen sind ohne den Polokragen von 2018 dieses Mal vergleichsweise besser weggekommen. Bei sengender Hitze fangen die vielen dünnen Streifen vor den Augen der Stadionbesucher wahrscheinlich an zu flimmern. Ausser bei Kylian Mbappé natürlich, bei dessen Geschwindigkeit der Gockel auf der Brust optisch zum Pfeil mutiert und von Streifen ohnehin nichts mehr zu sehen ist.

Silke Wichert

Königsblau ist eine so dankbare Trikothauptfarbe, dass selbst Schalke 04 darin gut aussieht – zumindest auf dem Weg vom Spielertunnel bis zum Anstoßkreis. Auch Frankreich schafft es, absurde Skandale (Zidans Kopfstoß im WM-Finale 2006, Trainingsstreik bei der WM in Südafrika 2010) zumindest gut gekleidet zu überstehen. Und nicht mal der Hahn als Trikot-Tier verhindert es, dass Frankreich immer wieder Turnier-Mode-Favorit ist. Absolute Höhepunkte waren die Trikots 1969 und 2014, im Jahr 2021 ist das Rot der Stutzen etwas knallig geworden und erinnert mehr an Reeperbahn als an Außenbahn.

Marc Baumann

Fotos: dpa

Verblassen neben dem Trainer: Italien

Heimtrikot, Puma

Wie soll man sich auf die Trikots der Spieler konzentrieren, wenn an der Außenlinie die ganze Zeit Roberto Mancini in diesem Anzug steht und fabelhaft aussieht? Eine marmorgraue Reminiszenz an Enzo Bearzot, der mit der Azzura 1982 die WM gewann. Die Bestellungen bei Emporio Armani gehen seit Freitag vermutlich durch die Decke. Allein schon deshalb müssen die Italiener lang im Turnier bleiben, damit man noch möglichst viel davon zu sehen bekommt. In welchen Leibchen seine elf Jungs dazu auflaufen? Nebensache.

Silke Wichert

Italien steht traditionell unter Schönheitsverdacht. Die Trikotfaustformel lautet: Je dunkler das Azurblau gemischt wird, desto gelungener die Optik. Leider hat sich Puma 2021 dazu entschieden, das an sich sehr okaye Heimtrikot mit Kragen durch ein Muster aufzupeppen. Dabei zeigt der FC Bayern seit drei, vier Jahren schon, dass verkopfte Trikotideen (Trikotmuster als Hommage ans Alpenpanorama oder Stadiondach) immer besser klingen als sie später aussehen.

Marc Baumann

Fotos: Getty Images, dpa

Gruß an den Kanzler: Österreich

Auswärtstriko, Puma

Auch die großen Sportmarken verfolgen mittlerweile die Plattformstrategie aus der Autobranche: Die Basis ist dieselbe, wird dann je nach Modell nur noch leicht variiert. Das zeigt sich etwa bei den Auswärtstrikots der Schweizer, Italiener und eben auch Österreicher. Der ausgeschriebene Ländername zwischen zwei Strichen ist eigentlich guter grafischer Minimalismus. Aber eben nicht, wenn er in doppelt und dreifacher Ausführung daherkommt. Dann wird’s beliebig.

Silke Wichert

Die österreichische Fußballhistorie ist reich an Absurditäten: 1934 besiegte sie ein bestochener Schiedsrichter, der absichtlich Bälle wegköpfte; 1954 ließ der von der Hitze matt gesetzte österreichische Torwart drei Tore in acht Minuten zu; 1990 verlor man gegen die Färöer – um nur einige erstaunliche Geschichten zu nennen. Der neueste Höhepunkt: Die türkisen Hosen des österreichischen Auswärtstrikots haben die selbe Farbe wie die Partei von Kanzler Sebastian Kurz. Ein Zufall? Ganz bestimmt. 

Marc Baumann

Fotos: dpa

Der Aufreger: Ukraine

Heimtrikot, Joma

Gäbe es nicht die politische Dimension, wäre dieses Trikot so belanglos wie Tütensuppe. Das Muster mit typischen ukrainischen Stickereien geht in dieser Instant-Melange leider vollkommen unter. Das reißt auch kein azurblauer Kragen als »Color Blocking« mehr raus. Dafür hat immerhin Andriy Shevchenko noch Chancen, es auf die Best-Dressed-Liste der Trainer zu schaffen.

Silke Wichert

Dass eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen zitiert werden muss (Resolution 68/262), um ein Trikot zu genehmigen, muss man auch erstmal schaffen. Also ja, die UEFA erlaubt trotz russischem Protest, dass auf den gelb-blauen Trikots der Ukraine eine Silhouette des Landes gedruckt wurde inklusive der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim. Der Kragenspruch »Ehre unseren Helden« dagegen musste wieder entfernt werden. Gerüchten zufolge wollte die Ukraine zudem mit Stahlhelmen spielen. Bleibt zu hoffen, dass Ukraine wie Russland weiter so schlecht spielen und nicht in einem K.O.-Spiel aufeinandertreffen.

Marc Baumann

Fotos: dpa

Der Absteiger: Kroatien

Auswärtstriko, Nike

Dieses total Verpixelte als Muster hat eigentlich schon wieder etwas. Nostalgie liegt ja eh im Trend, Retro hört in der Mode nie wieder auf. Passt auch zum Stammpublikum vor den Fernsehern, die sich alle noch an PacMan erinnern können. Die so krampfhaft gesuchte junge Zielgruppe dürfte das leider vollkommen kalt lassen. Aber für die gibt es ja die penetrante TikTok-Werbung auf den Banden.

Silke Wichert

Das so gelungene schwarze Auswärtstrikot des WM-Überraschungsfinalisten 2018 wurde für die EM 2020/2021 leicht abgewandelt – und dabei verschlimmbessert. Der seitliche rote Strich erinnert an Rennstreifen auf VW-Golf-Treffen am Wörthersee. Kroatiens modischer Abstieg dürfte mit dem sportlichen einhergehen, im Finale 2021 werden eher andere stehen.

Marc Baumann

Fotos: dpa

Die Gewinner: Portugal und Dänemark

Auswärtstrikot, Nike bzw. Heimtrikot, Hummel

Schon wieder Streifen, aber Nike hat die Sache für Portugal deutlich besser gelöst: »Bold Stripes« in den Nationalfarben. Das Grün wird allerdings immer mehr zu Aqua-Türkis geschummelt, sieht ja auch zu Rot und Schwarz viel frischer aus. Stammkunde Cristiano Ronaldo hat das neue und gelungene Design im Auftaktspiel offensichtlich getaugt. Ganz im Gegensatz zur Coca Cola während der Pressekonferenz. Schon jetzt ein legendärer Moment dieser noch jungen EM.

Silke Wichert

Das unvergesslichste Trikot dieser Europameisterschaft trägt die Nummer 10 (Christian Eriksen) und gehört zu Dänemark. Weil der Mann darin gerade noch so am Leben blieb. Abgesehen davon: Das klassisches Rot-Weiß stand den Dänen immer schon, die 2021er Variante punktet mit gut geschnittener Farbkante und dynamischen Beschleunigungspfeilen auf den Ärmeln. 

Marc Baumann

Fotos: Reuters, dpa