Die goldene Zeit vor der Funktionswäsche

Das Foto von Lady Gaga und Adam Driver am Set von »House of Gucci« ging sofort viral – und zeigt einmal mehr, wie sehr Menschen sich in die Vergangenheit sehnen.

Foto: (c) 2021 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. All Rights Reserved

Lady Gaga ist toll, Adam Driver sowieso, Ridley Scott natürlich auch, der Monte Rosa, oder was auch immer da im Aostatal zu sehen ist und die ganze True-Crime-Nummer als Plot des Films »House of Gucci« – alles irre toll. Aber reicht summiertes Tollsein aus, um ein Bild so viral gehen zu lassen? Über 4,2 Millionen Likes bekam das erste Foto vom Filmset allein auf Gagas Instagram-Account, insgesamt sicher noch zigmal so viele auf anderen Social-Media-Feeds, plus Erwähnungen in sämtlichen Medien außer vielleicht dem Chrismon.

Die allgemeine Verzückung hat natürlich nicht nur damit zu tun, wer und was da zu sehen ist, sondern vor allem wie. Diese Haare, diese Brille, diese Pelzmütze, diese Ketten, dieser Gürtel, vor allem: dieser Strickpullover! Und: dieser weiße Skioverall! Würde irgendeine schnelldrehende Modekette ähnliche Looks nächste Woche in die Läden bringen, sie wären sofort ausverkauft, selbst wenn man sie nur zur nächsten Achtziger-Party tragen würde.

Eine Flucht nach hinten als willkommene Abwechslung zur täglichen Tristesse

Meistgelesen diese Woche:

Mode-Momente aus der Vergangenheit waren schon früher herrlich anzusehen, aber in den letzten Jahren erscheint alles von früher noch besser, schöner, stilvoller. Das Internet ist zu einer endlosen Wiederaufbereitungsanlage geworden. Musste man vorher alte Zeitschriften vom Flohmarkt oder das Fotoalbum der Eltern rauskramen, um Retro-Momente zu Gesicht zu bekommen, sind die ganzen Schätze nun auf Pinterest, Instagram oder Youtube jederzeit verfügbar und werden rauf und runter geteilt. Es wimmelt von so vielen »Throwbacks« in die Vergangenheit, dass wir eigentlich eine ordentliche Nackenverspannung vom Zurückschauen haben müssten. Wenn der Blick nach hinten nicht so unglaublich gut täte.

Denn es ist ja keineswegs die persönliche »Nostalgia«, in der wir da baden. Die wenigsten waren bei Mick und Bianca Jaggers Hochzeit dabei, die meisten, die ständig von den goldenen Siebzigern schwärmen, haben aus jener Zeit selbst höchstens ein Lätzchen getragen. Und trotzdem schauen wir wehmütig auf Tage zurück, in denen Frauen ernsthaft Goldketten über dem Wollpullover am Berg trugen statt Funktionswäsche drunter und Fitbit am Arm. Dass man den gleichen Fummel, selbst wenn man ihn hätte, heute natürlich trotzdem nicht tragen würde, gehört zum Retro-Spiel dazu, weil das Vergangene ja nun mal unwiederbringlich vergangen ist. Die perfekte Absolution für all die Cargojogginghosen, Dünndaunenjacken und ähnliches Grauen der Gegenwart.

Eine Studie befand 2013, dass Nostalgie dazu diene, der eigenen »Bedeutungslosigkeit« entgegenzuwirken, die Personen empfinden, wenn sie gelangweilt sind. All die alten Jennifer Aniston Fotos werden also nur geteilt, um die eigene Banalität zu bekämpfen? Demnach müsste die Leere da draußen wirklich erschreckend groß sein. Nach dem Corona-Jahr 2020 können die meisten sich wahrscheinlich eher mit dem Ergebnis einer anderen Untersuchung identifizieren, wonach Nostalgia einen Puffer gegen Existenzängste bilde. Eine Flucht nach hinten als willkommene Abwechslung zur täglichen Tristesse. Gemessen an der aktuellen Lage erscheint ja so ziemlich alles erstrebenswert, selbst die Spice-Girls-Frisuren der Nullerjahre.

Aber ein ganzer Film voller Vintage-Gucci, aufgehängt an Lady Gaga und Adam Driver – das ist wirklich großer Eskapismus, gewissermaßen die Deluxe-Version. Jedes weitere Bild vom Set wird gierig aufgesaugt, das halbe Internet hat das Film-Paar bereits als fiktive Eltern adoptiert. Und das obwohl Gaga Patrizia Reggiani spielt, die 1995 den Mord an ihrem Ehemann Maurizio Gucci (Driver) in Auftrag gegeben haben soll. Auf dem Foto aus den Bergen fehlt jedenfalls nur der typische Postkartengruß: »Saluti dall’Italia.« Man kann sich schlicht nicht satt sehen an ihrer Grandezza und Dekadenz.

1969 durften Frauen noch nicht einmal abtreiben, statt MeToo wurde Je t’aime gesungen und von Tierschutz krähte noch kein Hahn

So gut sich dieses visuelle Valium anfühlen mag, die Vergangenheit zu verklären fällt allzu leicht, zumal, wenn man sie selbst gar nicht miterlebt hat. So stylish und angenehm langsam die alten Zeiten aussehen mögen, wirklich »gut« waren sie deshalb noch lange nicht. Im Hause Gucci sowieso nicht, aber auch insgesamt. So cool und frei Jane Birkin in ihren durchsichtigen Kleidchen rückblickend rüberkommt: 1969 durften Frauen noch nicht einmal abtreiben, statt MeToo wurde Je t’aime gesungen und von Tierschutz krähte noch kein Hahn. Farrah Fawcett mit Schlaghose und Nikes auf dem Skateboard wird wahrscheinlich alle paar Sekunden irgendwo hervorgekramt, aber vor lauter Föhnwelle vergisst man leicht, dass Charlies drei Engel damals noch allesamt weiß und middleclass waren, was den »Throwback« vielleicht doch nicht so erstrebenswert macht, wie das Ausharren im gerade nur mitteltollen Hier und Jetzt. Kann man beim Durchscrollen ja mal im Hinterkopf behalten.

Wird getragen mit: viel Negroni
Das sagen die Männer: »Wo habe ich bloß meinen weißen Ski-Anzug gelassen?«
Das sagen die Frauen: »Ich muss dringend noch mal alle Folgen Girls gucken«