Normal

Die Nachricht bezieht sich nur auf die Abschaffung einer Benzinsorte – aber klingt sie nicht wie ein Motto der Zeit? Es gibt kein Normal mehr, nur noch Super!

Aral nimmt nach langen Diskussionen und der schrittweisen Erhöhung der Preise nun als erster Konzern in Deutschland sein Normalbenzin vom Markt. Als Begründung wurde genannt, dass diese Benzinsorte im Verhältnis zum übrigen Angebot nicht mehr rentabel und die Nachfrage der Autofahrer deutlich zurückgegangen seien. Die Beschaffenheit von Benzinsorten unterscheidet sich durch die Oktanzahl, jene Zusatzstoffe, welche die »Klopffestigkeit« des Benzins erhöhen, seine Widerstandsfähigkeit gegen verfrühte Selbstentzündung. Normalbenzin hat eine Oktanzahl von 91, Super von 95, Super Plus von 98; die seit einigen Jahren erhältlichen Edelvarianten wie Arals »Ultimate 100« oder Shells »V-Power« enthalten sogar den höchstmöglichen Wert von 100, wobei allgemein bezweifelt wird, dass diese Sorten die Leistungs-fähigkeit des Motors tatsächlich noch optimieren können.

»Super« markiert also künftig die unterste Stufe und nimmt im Verhältnis zu den jüngsten »Plus«- und »Ultimo«-Sorten genau dieselbe Position auf der Benzinskala ein wie das frühere Normalbenzin. Vielleicht ist diese Verschiebung in der Kategorisierung von Kraftstoff ein letztes und besonders sinnbildliches Beispiel für eine gesellschaftliche Tendenz, die sich seit einiger Zeit in den verschiedensten Bereichen erkennen lässt. Vertraute Eichpunkte, Standards und Normgrößen lösen sich auf und werden von Kategorien ersetzt, die ursprünglich für einen besonderen Mehrwert, einen Überschuss standen. Wie an den Zapfsäulen nun kein »Normal« mehr getankt werden kann, gibt es in Cafés oder Kinos die Getränkegröße »Medium« nicht mehr (geschweige denn die Einheit »klein«.) Die Kaffeegrößen bei Starbucks beginnen bekanntlich bei »tall«, gefolgt von »grande«; die Skala besteht also nur noch in Varianten von groß. Und wer in Multiplex-Kinos arglos mittlere Popcornbecher bestellt, darf mit Por-tionen in Eimergröße rechnen.

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Auch wenn es konkrete ökonomische Gründe gibt, Normalbenzin abzuschaffen: Sein Verschwinden wirkt wie eine anschauliche Metapher. Das »Normale« ist eine Kategorie, mit der heute auch in den konventionellsten, biedersten Milieus nicht mehr zu reüssieren ist. Alles muss besonders sein, super und extra large. Ist es Zufall, dass ausgerechnet ein Einrichtungshaus namens XXXLutz zu den am schnells-ten expandierenden Unterneh-men Europas gehört? Und diese Ausdehnung von Standards ist vielleicht deshalb ein so erfolgreiches Geschäftsmodell, weil sie auf eine ganz ähnliche Sehnsucht im Leben der Kunden und Nutzer trifft. Mit einem neuen Begriff bezeichnen Kommunikationswissenschaftler die unablässige Arbeit an der Präsentation der eigenen Biografie als »Selbstdesign«. Auf ihren Facebook-, studiVZ- oder MySpace-Seiten geht es den Nutzern vor allem darum, ihre eigene Existenz in wenigen Worten und Bildern bestmöglich darzustellen, um ihr Netzwerk auszudehnen, eine Vielzahl von Freunden zu gewinnen. In dieser Welt der fortwährenden Selbstoptimierung wäre es ein unverzeihlicher Fehler, als gewöhnlich, als »normal« zu gelten.

Das Normale ist allerorten zu einer verdächtigen Eigenschaft geworden. Es hat derzeit nur eine einzige Aussicht, auf ein Comeback zu hoffen, und zwar dann, wenn es nicht mehr als aktuelles Muster in Erscheinung tritt, sondern als leicht nostalgische Liebhaberkategorie, als »Original«. Wenn etwa ein Traditionsprodukt in den Regalen – egal ob Getränk, Süßigkeit oder Hygieneartikel – um neue Varianten ergänzt wird und die ursprüngliche Sorte in den Hintergrund rückt, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit prophezeien, dass dieser alte Standard kurz über lang mit dem Stempel »klassisch« oder »original« versehen wird. Insofern ist es gut vorstellbar, dass auch das Benzin mit der Oktanzahl 91 an die Tankstellen zurückkehrt. Neben den Sorten Super, Super Plus und Ultimate wird man in ein paar Jahren vielleicht auch »Classic« tanken können.